»Also sind Sie gar noch ein Verwandter?« rief der erschrockene Diener, den ordentlich ein Schauder überlief. »Auch das ist kaum richtig. Übrigens, strenggenommen: gewiß, wir sind Verwandte, aber so entfernte, daß wir uns eigentlich kaum als solche betrachten können. Ich habe mich einmal vom Ausland aus brieflich an die Generalin gewandt; aber sie hat mir nicht geantwortet. Ich habe es aber doch für notwendig gehalten, bei meiner Rückkehr hier Beziehungen anzuknüpfen. Ihnen aber setze ich das alles jetzt auseinander, um Ihre Zweifel zu zerstreuen; denn ich sehe, Sie beunruhigen sich immer noch. Melden Sie nur, daß Fürst Myschkin da ist, und der Anlaß meines Besuchs wird schon aus der Meldung ersichtlich sein. Empfangen sie mich, gut; empfangen sie mich nicht, auch gut, vielleicht sogar sehr gut. Aber ich glaube, sie werden nicht anders können, als mich empfangen; die Generalin wird gewiß wünschen, den einzigen noch lebenden Repräsentanten ihres Geschlechtes zu sehen; denn wie ich über sie mit Bestimmtheit gehört habe, legt sie auf ihre Herkunft großen Wert.«
Es hätte scheinen können, daß diese Mitteilungen des Fürsten höchst einfach und natürlich waren; aber je einfacher und natürlicher sie an sich waren, um so absonderlicher kamen sie im gegenwärtigen Augenblick heraus, und der erfahrene Kammerdiener konnte nicht umhin, in ihnen etwas zu finden, was, von einem Menschen zu einem andern Menschen gesagt, durchaus angemessen, aber von einem Gast zu einem Diener gesagt, völlig unangemessen war. Aber da die Diener weit verständiger sind, als die Herrschaften gewöhnlich glauben, so ging es auch dem Kammerdiener durch den Kopf, daß hier zwei Fälle möglich seien: entweder sei der Fürst so ein Herumtreiber und jedenfalls gekommen, um bei der Herrschaft um ein Almosen zu bitten, oder er sei einfach ein Narr und ohne Ehrgefühl, da ein vernünftiger Fürst, der Ehrgefühl besitze, nicht im Vorzimmer sitzen und mit einem Diener über seine Angelegenheiten reden würde. Hatte er also nicht sowohl in dem einen wie in dem andern Falle die Anmeldung zu verantworten?
»Aber Sie sollten sich doch in das Wartezimmer begeben«, bemerkte er möglichst energisch.
»Wenn ich da gesessen hätte, so hätte ich Ihnen das alles ja nicht auseinandersetzen können«, versetzte der Fürst in heiterem Ton, »und somit würden Sie sich immer noch beim Anblick meines Mantels und meines Bündelchens beunruhigen. Aber jetzt halten Sie es vielleicht nicht einmal mehr für nötig, auf den Sekretär zu warten, sondern gehen einfach selbst hin und melden mich an.«
»Ich darf einen Besucher wie Sie ohne den Sekretär nicht anmelden, und außerdem hat der General selbst ausdrücklich erst noch vorhin verboten, ihn um irgend jemandes willen zu stören, solange der Oberst da ist; nur Gawrila Ardalionowitsch geht ohne Anmeldung hinein.«
»Ist das ein Beamter?«
»Gawrila Ardalionowitsch? Nein! Er ist bei einer Aktiengesellschaft angestellt. Legen Sie doch wenigstens Ihr Bündelchen hin!«
»Ich habe selbst schon daran gedacht. Wenn Sie also erlauben, tue ich es. Sagen Sie, soll ich auch den Mantel ablegen?«
»Gewiß! Sie können doch nicht im Mantel zu ihm hineingehen.«
Der Fürst erhob sich, zog sich eilig den Mantel aus und stand nun in einem ziemlich anständigen, gut gearbeiteten, wiewohl schon abgetragenen Jackett da. Über die Weste zog sich eine stählerne Uhrkette hin. An der Kette war eine silberne Genfer Uhr sichtbar.
Obgleich der Fürst ein Narr war (zu dieser Ansicht war der Diener bereits gelangt), so schien es dem Kammerdiener des Generals schließlich doch unpassend, dieses Privatgespräch mit dem Besucher länger fortzusetzen, trotzdem der Fürst ihm aus einem nicht ganz klaren Grund gefiel, natürlich nur so in seiner Art. Aber von einem andern Gesichtspunkt aus erweckte er bei ihm ein entschiedenes, starkes Mißfallen.
»Und wann empfängt die Generalin?« fragte der Fürst, indem er sich wieder auf seinen früheren Platz setzte.
»Das gehört nicht zu meinem Dienst. Sie empfängt zu verschiedenen Zeiten, je nach der Persönlichkeit. Die Schneiderin wird schon um elf Uhr vorgelassen. Gawrila Ardalionowitsch wird ebenfalls früher empfangen als andere, sogar zum ersten Frühstück.«
»Hier bei Ihnen ist es im Winter in den Zimmern wärmer als im Ausland«, bemerkte der Fürst; »aber dafür ist es dort auf den Straßen wärmer als bei uns. So ist es einem Russen kaum möglich, im Winter dort in den Häusern zu wohnen, weil er da nicht seine gewohnte Wärme hat.«
»Wird da nicht geheizt?«
»O doch, aber die Häuser sind anders gebaut, das heißt die Öfen und die Fenster.«
»Hm! Sind Sie denn lange im Ausland gereist?«
»Vier Jahre lang. Übrigens habe ich fast immer an einem Ort stillgesessen, auf dem Land.«
»Da haben Sie sich wohl unserer Verhältnisse entwöhnt?«
»Das ist richtig. Können Sie es glauben: ich wundere mich über mich selbst, daß ich das Russischsprechen nicht verlernt habe. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich: ›Aber ich spreche ja noch ganz gut.‹ Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich soviel spreche. Wirklich, seit gestern habe ich fortwährend Lust, Russisch zu sprechen.«
»Hm! Haha! Haben Sie früher in Petersburg gewohnt?« (Trotz seiner Vorsätze brachte der Diener es doch nicht fertig, ein so höflich und bescheiden geführtes Gespräch seinerseits abzubrechen.)
»In Petersburg? Fast gar nicht, nur bei Durchreisen. Auch habe ich früher hier eigentlich nichts gekannt; und jetzt gibt es hier, höre ich, soviel Neues, daß, wie man sagt, auch wer vorher alles gekannt hat, jetzt alles von neuem lernen muß. Es wird hier jetzt viel von den Gerichten geredet.«
»Hm ...! Von den Gerichten. Die Gerichte, ja, ja, die Gerichte. Aber wie ist es dort? Geht es da beim Gericht gerechter zu oder nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe über die unsrigen viel Gutes gehört. Da ist ja nun bei uns die Todesstrafe wieder abgeschafft.«
»Aber dort finden Hinrichtungen statt?«
»Ja. Ich habe in Frankreich bei einer zugesehen, in Lyon. Schneider hatte mich dazu mitgenommen.«
»Hängen sie die Menschen auf?«
»Nein, in Frankreich werden immer die Köpfe abgeschlagen.«
»Schreit denn der Betreffende dabei?«
»Bewahre! Es geht in einem Augenblick vor sich. Sie legen den Menschen hin, und dann fällt mittels einer Maschine (Guillotine heißt sie) so ein breites Messer mit einem schweren, kräftigen Schlag herunter ... Der Kopf fliegt ab, ehe man nur mit den Augen blinzeln kann. Die Vorbereitungen sind allerdings peinlich. Wenn das Urteil verkündet ist, machen sie den Hinzurichtenden zurecht, binden ihn und führen ihn auf das Schafott; das ist schrecklich! Das Volk läuft zusammen, sogar die Weiber, obwohl man es dort nicht gern hat, daß Weiber dabei zusehen.«
»Die haben dabei auch nichts zu suchen.«
»Gewiß, gewiß! Solche Qualen mit anzusehen ...! Der Verurteilte war ein gebildeter, unerschrockener, kräftiger Mann, schon bei Jahren. Legros war sein Name. Nun, sehen Sie, ich sage Ihnen, ob Sie es nun glauben oder nicht: als er auf das Schafott heraufkam, da weinte er und sah weiß aus wie ein Blatt Papier. Ist das möglich? Ist das nicht entsetzlich? Wer weint denn vor Angst? Ich hatte nicht gedacht, daß jemand, der kein Kind ist, vor Angst weinen könnte, ein Mann, der nie geweint hat, ein Mann von fünfundvierzig Jahren. Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹, und da tötet man nun dafür, daß jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute noch, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe wohl fünfmal davon geträumt.«
Der Fürst war beim Sprechen ordentlich eifrig geworden, und eine leichte Röte war auf seinem blassen Gesicht hervorgetreten, obgleich