Der Idiot. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188651
Скачать книгу
peinvollen Leidenschaftlichkeit, die mit seinem frechen, unhöflichen Lächeln und seinem scharfen, selbstzufriedenen Blick nicht recht im Einklang stand. Er war warm gekleidet, indem er einen weiten, schwarzen, mit Tuch überzogenen Pelz aus Lammfell trug, und hatte in der Nacht nicht gefroren, während sein Reisegefährte an seinem frostzitternden Rücken die ganze Annehmlichkeit einer feuchten russischen Novembernacht hatte aus halten müssen, auf die er offenbar nicht hinreichend vorbereitet war. Er trug einen ziemlich weiten, dicken Mantel ohne Ärmel und mit einer gewaltigen Kapuze, von der Art, wie man sie oft auf Reisen zur Winterzeit irgendwo im fernen Ausland benutzt, zum Beispiel in der Schweiz oder in Oberitalien, wo man dabei natürlich auch nicht auf so weite Fahrten rechnet wie die von Eydtkuhnen nach Petersburg. Aber was in Italien taugte und völlig ausreichte, erwies sich in Rußland als ganz untauglich. Der Eigentümer des Mantels mit der Kapuze war ein junger Mensch, der gleichfalls im Alter von etwa sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren stand, etwas über Mittelgröße, mit sehr hellblondem, dichtem Haar, hohlen Backen und einem kleinen, spitzen, fast ganz weißen Bärtchen. Seine Augen waren groß, blau und ruhig; in ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes, etwas von jenem eigentümlichen Ausdruck, an dem manche auf den ersten Blick erraten, daß der Betreffende Epileptiker ist. Das Gesicht des jungen Mannes war übrigens angenehm, mit feinen Zügen und nicht zu fleischig, aber farblos, nur daß es augenblicklich geradezu blaugefroren war. An seinen Händen baumelte ein schmächtiges Bündelchen, das in einem alten, verblichenen, seidenen Tuch, wie es schien, sein ganzes Reisegepäck enthielt. An den Füßen hatte er dicksohlige Schuhe mit Gamaschen – alles in nicht-rus sischer Art. Sein schwarzhaariger Reisegenosse in dem tuchüberzogenen Pelz musterte dies alles genau, zum Teil, weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch welches manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt:

      »Ist Ihnen kalt?«

      Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern.

      »Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit; »und, sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.«

      »Sie kommen wohl aus dem Ausland?«

      »Ja, aus der Schweiz.«

      »Fuet! Nun sehen Sie einmal an!«

      Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte.

      Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes im Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male; namentlich lachte er auf, als auf die Frage:

      »Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte:

      »Nein, geheilt bin ich nicht«.

      »Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt; und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch.

      »Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich in das Gespräch ein daneben sitzender, schlecht gekleideter Herr, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!«

      »Oh, wie Sie sich in meinem Falle irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe; aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.«

      »Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige.

      »Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.«

      »Wo gedenken Sie denn zu bleiben?«

      »Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde? ... Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht ... es ist noch ungewiß ...«

      »Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?«

      Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus.

      »Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige.

      »Ich möchte darauf wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Wiewohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.«

      Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein.

      »Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). »Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen; aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Falle, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren ... was einem außerordentlich leicht passieren kann ... sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.«

      »Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt, sie ist kaum meine Verwandte; ja, ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.«

      »Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegegen. Hm ...! Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm ...! Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde, weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist; und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt; denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch in der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann und hatte gute Verbindungen, und besaß seinerzeit viertausend Seelen ...«

      »Ganz richtig; er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.«

      Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte.

      Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was er für eine Frau genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist usw., usw., und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils