»Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.
»Wissen Sie was?« erwiderte der Fürst lebhaft. »Da sagen Sie das nun, und alle Leute sagen das ebenso wie Sie, und die Maschine, die Guillotine, ist ja auch zu diesem Zweck erfunden. Aber mir ging gleich damals ein gewisser Gedanke durch den Kopf: wie, wenn das sogar noch schlimmer wäre? Das scheint Ihnen lächerlich und seltsam; aber wenn man etwas Einbildungskraft besitzt, so kann einem wohl auch ein solcher Gedanke in den Kopf kommen. Überlegen Sie nur: nehmen wir zum Beispiel die Folter; dabei finden Schmerzen und Verwundungen, das heißt körperliche Qualen, statt, und daher lenkt dies alles den Gefolterten von dem seelischen Leiden ab, so daß er nur von den Wunden Qualen empfindet bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist. Wenn man so den Kopf gerade unter das Messer legt und hört, wie es über dem Kopf herabgleitet, dann muß diese Viertelsekunde das Allerschrecklichste sein. Wissen Sie wohl, daß das nicht eine Phantasie von mir ist, sondern daß das schon viele gesagt haben? Ich glaube das so bestimmt, daß ich Ihnen gegenüber diese meine Ansicht offen ausspreche. Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig viel größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig viel schrecklicher als die von einem Räuber begangene. Derjenige, welchen Räuber töten, wird bei Nacht gemordet, im Wald, oder sonst auf irgendeine Weise; in jedem Fall hofft er noch bis zum letzten Augenblick auf Rettung. Es hat Beispiele gegeben, daß einem schon die Kehle durchgeschnitten war und er doch noch hoffte, und entweder davonzulaufen suchte oder um sein Leben bat. Aber hier ist einem diese ganze letzte Hoffnung, mit der das Sterben zehnmal so leicht ist, mit Sicherheit genommen. Hier ist ein Urteilsspruch, und die ganze schreckliche Qual besteht in dem Bewußtsein, daß man mit Sicherheit dem Tod nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: ›Geh hin; du bist begnadigt!‹ Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!«
Obgleich der Kammerdiener all dies nicht hätte so ausdrücken können wie der Fürst, verstand er doch, wenn auch nicht alles, so doch gewiß die Hauptsache, was sogar an seiner gerührten Miene wahrzunehmen war.
»Wenn Sie so sehr wünschen zu rauchen«, sagte er, »so würde das vielleicht auch gehen; nur müßten Sie es sehr bald tun. Denn er könnte auf einmal nach Ihnen fragen, und dann wären Sie nicht da. Sehen Sie, dort unter der kleinen Treppe ist eine Tür. Gehen Sie in die Tür hinein, rechts ist ein Kämmerchen, da können Sie rauchen; nur müssen Sie die Luftklappe aufmachen, denn das Rauchen ist hier doch nicht in der Ordnung.«
Aber der Fürst kam nicht mehr dazu, fortzugehen und zu rauchen. In das Vorzimmer trat ein junger Mann mit Papieren in der Hand. Der Kammerdiener nahm ihm den Pelz ab. Der junge Mann schielte nach dem Fürsten hin.
»Der Herr da sagt mir, Gawrila Ardalionowitsch«, begann der Kammerdiener in vertraulichem, beinahe familiärem Ton, »daß er ein Fürst Myschkin und ein Verwandter der gnädigen Frau sei; er ist mit dem Zug vom Ausland gekommen, mit einem Bündelchen in der Hand, aber ...«
Das Weitere konnte der Fürst nicht verstehen, da der Kammerdiener zu flüstern anfing. Gawrila Ardalionowitsch hörte aufmerksam zu und betrachtete den Fürsten mit großem Interesse; schließlich hörte er auf zuzuhören und trat ungeduldig näher an ihn heran.
»Sie sind Fürst Myschkin?« fragte er sehr freundlich und höflich.
Es war ein recht netter junger Mann, ebenfalls etwa achtundzwanzig Jahre alt, schlank, blond, von Mittelgröße, mit einem kleinen Napoleonbärtchen und einem verständigen, sehr hübschen Gesicht. Nur war sein Lächeln bei all seiner Liebenswürdigkeit ein wenig zu schlau; die Zähne traten dabei ein wenig zu perlenartig heraus; der Blick war trotz all seiner Heiterkeit und anscheinenden Offenherzigkeit etwas zu scharf und forschend.
Der Fürst hatte die Empfindung: »Wenn er allein ist, sieht er wahrscheinlich ganz anders aus und lacht vielleicht nie.«
Der Fürst setzte ihm alles, was er in der Geschwindigkeit konnte, auseinander, fast dasselbe, was er schon vorher dem Kammerdiener und noch früher seinem Reisegefährten Rogoschin auseinandergesetzt hatte. Gawrila Ardalionowitsch schien unterdessen in seinem Gedächtnis etwas zu suchen.
»Haben Sie nicht«, fragte er, »vor einem Jahr oder vor noch kürzerer Zeit einen Brief, wenn mir recht ist, aus der Schweiz an Lisaweta Prokofjewna ge schickt?«
»Ganz richtig.«
»Dann kennt man Sie hier und wird sich Ihrer sicherlich erinnern. Sie wollen zu Seiner Exzellenz? Ich werde Sie sofort melden ... Er wird gleich frei sein. Nur sollten Sie ... Sie sollten bis dahin ins Wartezimmer gehen ... Warum ist der Herr hier?« wandte er sich in strengem Ton an den Kammerdiener.
»Ich sagte schon, der Herr wollte selbst nicht ...«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und ein Offizier mit einem Portefeuille unter dem Arm kam laut redend und sich verabschiedend heraus.
»Du bist hier, Ganja?« rief eine Stimme aus dem Arbeitszimmer. »So komm doch herein!«
Gawrila Ardalionowitsch nickte dem Fürsten zu und begab sich eilig in das Arbeitszimmer.
Ungefähr zwei Minuten darauf öffnete sich die Tür von neuem, und Gawrila Ardalionowitschs wohlklingende, höfliche Stimme rief:
»Bitte, treten Sie näher, Fürst!«
III
Der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin stand mitten in seinem Arbeitszimmer und betrachtete mit größter Neugier den eintretenden Fürsten; er ging ihm sogar zwei Schritte entgegen. Der Fürst trat zu ihm heran und stellte sich ihm vor.
»Sehr wohl«, antwortete der General; »womit kann ich Ihnen dienen?«
»Eindringliches Geschäft habe ich nicht; meine Absicht war einfach, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich möchte nicht stören, da ich weder Ihren Empfangstag noch Ihre Dispositionen kenne ... Aber ich komme eben von der Bahn ... ich bin aus der Schweiz hergereist.«
Der General war nahe daran, zu lächeln; aber er überlegte und hielt inne; dann überlegte er noch ein wenig, kniff die Augen zusammen, musterte seinen Gast noch einmal vom Kopf bis zu den Füßen, wies ihm dann schnell einen Stuhl an, setzte sich selbst ihm schräg gegenüber und wandte sich in ungeduldiger Erwartung zum Fürsten hin. Ganja stand in einer Ecke des Arbeitszimmers am Schreibtisch und blätterte in Papieren.
»Für neue Bekanntschaften habe ich im allgemeinen nur wenig Zeit«, sagte der General; »aber da Sie gewiß dabei Ihre Absicht haben, so ...«
»Ich habe es mir vorher gedacht«, unterbrach ihn der Fürst, »daß Sie in meinem Besuch jedenfalls irgendeine besondere Absicht sehen würden. Aber bei Gott, außer dem Vergnügen, mit Ihnen bekannt zu werden, habe ich keinerlei besondere Absicht.«
»Das Vergnügen ist sicherlich auch für mich ein sehr großes; aber man kann sich nicht immer dem Vergnügen widmen; es kommen manchmal auch Geschäfte vor, wie Sie wissen werden ... Außerdem vermag ich bis jetzt absolut nicht