Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.
»Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon lange nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt ... in Twer?«
»Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.
»Jawohl; aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zum General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört ...«
»Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tod stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, wiewohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.«
»Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«
»Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tod Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbett ...«
»Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, »wiewohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.«
»Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«
»So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.
»Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging dann auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst (notabene, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals) macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich; aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr später, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Division gehörte wie unser Regiment!«
»Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.
»Es verhält sich nicht so; das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn ordentlich kummervoll ansah. »Mon mari se trompe.«
»Aber liebe Frau, ›se trompe‹, das ist leicht gesagt; aber kläre du doch selbst einmal einen solchen Fall auf! Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich würde der erste sein, der da sagte, qu'on se trompe. Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu; aber ...«
»Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt«, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat.
»Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger ... Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite ...«
»Die Suppe wird wieder kalt werden«, drängte Warwara ungeduldig.
»Gleich, gleich!« murmelte der General und verließ das Zimmer. »Und trotz aller Nachforschungen ...«, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen.
»Sie werden meinem Mann Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben«, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. »Er wird Sie übrigens nicht zu viel belästigen; er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine ... besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: Sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Logis wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt in Ansatz gebracht werden; aber ich bitte Sie einzig um der guten Ordnung willen darum ... Was ist das, Warja?«
Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja.
»Sie hat es ihm heute selbst geschenkt«, sagte Warja, »und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.«
»Heute abend!« wiederholte Nina Alexandrowna halblaut wie in Verzweiflung. »Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt ... Hat er es dir denn selbst gezeigt?« fügte sie erstaunt hinzu.
»Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden; da habe ich es aufgehoben.«
»Fürst«, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, »ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierher bitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?«
Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, indem er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu.
»Wenn ich Sie danach frage«, bemerkte Nina Alexandrowna, »so tue ich es nicht in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte namentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ›Er weiß alles; man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‹ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade ...«
Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand.
»Also heute, Ganja?« fragte Nina Alexandrowna plötzlich.
»Was soll heute sein?« rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. »Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier ... Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht ...«