Der Idiot. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188651
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die sich heute so entscheiden und morgen wieder anders reden. Verstehen Sie wohl, Alexandra Iwanowna? Meine Töchter sagen, Fürst, ich sei wunderlich; aber ich habe ein klares, gesundes Urteil. Denn das Herz ist die Hauptsache, und alles übrige ist dummes Zeug. Verstand ist freilich auch nötig, gewiß ... vielleicht ist der Verstand sogar die allergrößte Hauptsache. Lache nicht, Aglaja; ich widerspreche mir nicht: ein Weib mit Herz ohne Verstand ist ebenso unglücklich wie ein Weib mit Verstand ohne Herz. Das ist eine alte Wahrheit. Ich bin ein Weib mit Herz ohne Verstand und du eines mit Verstand ohne Herz; wir sind beide unglücklich und müssen beide viel leiden.«

      »Inwiefern sind Sie denn so unglücklich, Mama?« konnte Adelaida sich nicht enthalten zu fragen; sie war anscheinend von der ganzen Gesellschaft die einzige, die ihre heitere Stimmung nicht verloren hatte.

      »Erstens weil ich so gelehrte Töchter habe«, trumpfte die Generalin sie auf. »Und da dies eine schon ganz hinreichend ist, so brauche ich das übrige nicht erst lange aufzuzählen. Aber nun genug des Geredes! Wir wollen einmal sehen, wie ihr beide (von Aglaja rede ich nicht) mit eurem Verstand und mit eurer Redekunst euch herauswickeln werdet, und ob Sie, verehrte Alexandra Iwanowna, mit Ihrem geschätzten Herrn Gemahl glücklich sein werden ... Ah!« rief sie, als sie den eintretenden Ganja erblickte, »da kommt noch so ein Ehekandidat. Guten Morgen!« erwiderte sie auf Ganjas Verbeugung, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern. »Sie wollen eine Ehe eingehen?«

      »Eine Ehe ...? Wieso ...? Was für eine Ehe ...?« murmelte Gawrila Ardalionowitsch ganz verblüfft.

      Er war schrecklich verlegen.

      »Sie wollen sich verheiraten? frage ich, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist.«

      »N-nein ... ich ... n-nein«, log Gawrila Ardalionowitsch, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht.

      Er warf eilig einen Blick auf die abseits sitzende Aglaja und ließ seine Augen schnell wieder weitergleiten. Aglaja sah ihn kalt, gerade und ruhig an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, und beobachtete seine Verwirrung.

      »Nein? Sie haben nein gesagt?« setzte die unerbittliche Lisaweta Prokofjewna das Verhör beharrlich fort. »Gut, ich werde es mir merken, daß Sie heute, Mittwoch vormittag, auf meine Frage mit nein geantwortet haben. Was haben wir heute für einen Tag – Mittwoch?«

      »Ich glaube, Mittwoch, Mama«, antwortete Adelaida.

      »Ihr wißt doch nie die Wochentage. Und was für ein Datum?«

      »Den siebenundzwanzigsten«, antwortete Ganja.

      »Den siebenundzwanzigsten? Das ist nützlich zu wissen wegen einer gewissen Berechnung. Adieu, Sie haben wohl viel zu tun, und für mich ist es Zeit, daß ich mich anziehe und ausfahre; nehmen Sie Ihr Bild wieder mit! Empfehlen Sie mich der unglücklichen Nina Alexandrowna ...! Auf Wiedersehen, mein lieber Fürst! Kommen Sie recht oft wieder her; ich will jetzt expreß zu der alten Bjelokonskaja fahren, um ihr von Ihnen zu erzählen. Und hören Sie, mein Lieber: ich glaube, daß Gott Sie speziell meinetwegen aus der Schweiz nach Petersburg geführt hat. Vielleicht haben Sie hier auch noch anderes zu tun; aber hauptsächlich sind Sie meinetwegen hergekommen. Gott hat es mit Absicht so geordnet ... Auf Wiedersehen, liebe Kinder! Liebe Alexandra, komm du mit mir!«

      Die Generalin ging hinaus. Ganja, der ganz verstört, fassungslos und ergrimmt war, nahm das Bild vom Tisch und wandte sich mit einem schiefen Lächeln zum Fürsten: »Fürst, ich gehe jetzt gleich nach Hause. Wenn Sie Ihre Absicht, bei uns zu wohnen, nicht aufgegeben haben, so werde ich Sie hinführen; sonst kennen Sie ja nicht einmal Straße und Haus.«

      »Warten Sie, Fürst«, sagte Aglaja, die sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob; »Sie sollen mir noch etwas in mein Album schreiben. Papa hat gesagt, Sie seien ein Kalligraph. Ich werde es Ihnen gleich bringen.«

      Sie verließ das Zimmer.

      »Auf Wiedersehen, Fürst; ich gehe auch weg«, sagte Adelaida.

      Sie drückte dem Fürsten fest die Hand, lächelte ihm freundlich und herzlich zu und ging hinaus. Den dabeistehenden Ganja sah sie gar nicht an.

      »Das ist Ihr Werk!« rief zähneknirschend Ganja, der, sowie alle hinausgegangen waren, auf den Fürsten losstürzte. »Sie haben ihnen ausgeplaudert, daß ich heiraten will!« murmelte er hastig im Flüsterton, mit wütendem Gesicht und zornig funkelnden Augen. »Sie sind ein schamloser Schwätzer!«

      »Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren«, antwortete der Fürst ruhig und höflich. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie heiraten wollen.«

      »Sie haben vorhin gehört, wie Iwan Fjodorowitsch sagte, heute abend werde sich alles bei Nastasja Filippowna entscheiden, und das haben Sie weitergeredet! Sie lügen! Woher hätten die Damen es sonst wissen können? Wer, zum Teufel, konnte es ihnen mitteilen außer Ihnen? Hat mir die Alte etwa nicht zu verstehen gegeben, daß sie davon weiß?«

      »Sie müssen am besten wissen, wer es den Damen mitgeteilt hat, wenn Sie der Ansicht sind, daß man Ihnen dergleichen zu verstehen gegeben hat; ich habe kein Wort davon gesagt.«

      »Haben Sie mein Billett übergeben ...? Ist eine Antwort da?« unterbrach ihn Ganja, vor Ungeduld glühend.

      Aber gerade in diesem Augenblick kam Aglaja zurück, und der Fürst hatte nicht mehr Zeit zu antworten.

      »Hier, Fürst«, sagte Aglaja, indem sie ihr Album auf ein Tischchen legte. »Suchen Sie sich eine Seite aus und schreiben Sie mir etwas hinein! Hier ist eine Feder, noch dazu eine ganz neue. Es macht doch nichts aus, daß es eine Stahlfeder ist? Ich habe mir sagen lassen, die Kalligraphen schrieben nicht mit Stahlfedern.«

      Während sie mit dem Fürsten sprach, schien sie gar nicht zu bemerken, daß Ganja ebenfalls da war. Aber während nun der Fürst die Feder in Ordnung brachte, eine Seite aussuchte und sich zum Schreiben bereit machte, trat Ganja zu dem Kamin heran, wo Aglaja unmittelbar rechts neben dem Fürsten stand, und sagte zu ihr mit zitternder, stockender Stimme aus nächster Nähe:

      »Ein einziges Wort, nur ein einziges Wort von Ihnen – und ich bin gerettet.«

      Der Fürst wandte sich rasch um und sah sie beide an. Auf Ganjas Gesicht lag der Ausdruck echter Verzweiflung; er schien diese Worte ohne jede Überlegung hervorgestoßen zu haben. Aglaja blickte ihn ein paar Sekunden lang mit ganz demselben ruhigen Erstaunen an wie eine Weile vorher den Fürsten, und es schien, daß dieses ruhige Erstaunen, diese Verwunderung, diese anscheinende völlige Verständnislosigkeit für das, was zu ihr gesagt war, in diesem Augenblick für Ganja schrecklicher war, als es die stärkste Verachtung hätte sein können.

      »Was soll ich denn schreiben?« fragte der Fürst.

      »Ich werde es Ihnen gleich diktieren«, erwiderte Aglaja, sich zu ihm wendend. »Sind Sie bereit? Nun, dann schreiben Sie: ›Ich lasse mich nicht auf Handelsgeschäfte ein.‹ Setzen Sie jetzt das Datum darunter! Zeigen Sie her!«

      Der Fürst reichte ihr das Album hin.

      »Vorzüglich! Sie haben es erstaunlich schön geschrieben; Ihre Handschrift ist eine ganz wundervolle! Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Fürst ... Warten Sie«, fügte sie hinzu, als ob ihr plötzlich etwas einfiele, »kommen Sie mit; ich will Ihnen etwas zum Andenken schenken.«

      Der Fürst folgte ihr; als sie jedoch ins Eßzimmer kamen, blieb Aglaja stehen.

      »Lesen Sie das da!« sagte sie, ihm Ganjas Billett reichend. Der Fürst nahm das Billett und blickte Aglaja erstaunt an.

      »Ich weiß ja, daß Sie es nicht gelesen haben und nicht der Vertraute dieses Menschen sein können. Lesen Sie; es ist mein Wunsch, daß Sie es lesen.«

      Das Billett war augenscheinlich in großer Eile geschrieben:

      »Heute wird mein Schicksal entschieden werden; Sie wissen, in welcher Weise. Heute werde ich unwiderruflich mein Wort geben müssen. Ich habe keinerlei Anrecht auf Ihre Teilnahme und wage nicht, irgendwelche Hoffnungen zu hegen; aber Sie haben früher einmal ein Wort ausgesprochen, nur ein einziges Wort, und dieses Wort hat die ganze dunkle Nacht meines Lebens erhellt und ist für mich ein Leuchtfeuer geworden.