»Ich möchte wissen, was Sie sich um Nastasja Filippowna ...«, murmelte er, versank aber, ohne den Satz zu beenden, in Gedanken.
Er war in sichtlicher Unruhe. Der Fürst erinnerte ihn an das Bild.
»Hören Sie, Fürst«, sagte Ganja auf einmal, wie wenn ein plötzlicher Gedanke in seinem Kopf aufleuchtete, »ich habe eine große Bitte an Sie ... Aber ich weiß wirklich nicht ...«
Er wurde verwirrt und sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende. Es schien, als ob er einen Entschluß fassen wolle, aber mit sich selbst kämpfe. Der Fürst wartete schweigend. Ganja sah ihn noch einmal mit einem forschenden, durchdringenden Blick an.
»Fürst«, begann er von neuem, »man ist dort auf mich augenblicklich ... infolge eines ganz sonderbaren Umstandes ... an dem ich keine Schuld trage ... nun, kurz, das gehört nicht hierher ... man ist dort auf mich, wie es scheint, ein wenig böse, so daß ich für einige Zeit nicht ohne besondere Aufforderung hingehen möchte. Ich muß jetzt aber ganz notwendig mit Aglaja Iwanowna sprechen. Ich habe hier für jeden Fall ein paar Worte an sie geschrieben« (er hatte auf einmal einen kleinen, zusammengefalteten Zettel in der Hand) »und weiß nun nicht, wie ich sie ihr zugehen lassen soll. Möchten Sie es nicht übernehmen, Fürst, dieses Blättchen an Aglaja Iwanowna abzugeben, jetzt gleich, aber nur an Aglaja Iwanowna allein, das heißt so, daß es niemand sieht, verstehen Sie? Es handelt sich nicht um irgendwelche arge Heimlichkeit, es ist nichts Derartiges ... aber ... wollen Sie es tun?«
»Die Sache ist mir nicht sehr angenehm«, antwortete der Fürst.
»Ach, Fürst, ich bin in der äußersten Notlage!« bat Ganja. »Sie wird vielleicht antworten ... Seien Sie versichert, daß nur die dringende Notwendigkeit, die allerdringendste Notwendigkeit mich veranlaßt, mich an Sie zu wenden ...! Durch wen sollte ich es sonst hinschicken ...? Die Sache ist sehr wichtig ... außerordentlich wichtig für mich ...«
Ganja war in größter Angst, der Fürst könnte es ihm abschlagen, und blickte ihm, furchtsam bittend, in die Augen.
»Nun, meinetwegen, ich werde es übergeben.«
»Aber ja nur so, daß es niemand bemerkt!« bat der erfreute Ganja. »Und noch eins, Fürst: ich kann mich doch wohl auf Ihr Ehrenwort verlassen, nicht wahr?«
»Ich werde es niemandem zeigen«, erwiderte der Fürst.
»Das Billett ist nicht versiegelt, aber ...« Ganja merkte, daß er in seiner übergroßen Sorge zuviel sagte, und hielt verlegen inne.
»Oh, ich werde es nicht lesen«, versetzte der Fürst ganz schlicht, nahm das Bild und verließ das Arbeitszimmer.
Als Ganja allein geblieben war, griff er sich an den Kopf.
»Ein Wort von ihr, und ich ... und ich breche vielleicht wirklich diese Beziehungen ab ...!«
Vor Aufregung und gespannter Erwartung war er nicht imstande, sich wieder an seine Papiere zu setzen, sondern schritt im Arbeitszimmer von einer Ecke nach der andern.
Der Fürst ging sehr nachdenklich zurück; der Auftrag war ihm unangenehm; unangenehm war ihm auch der Gedanke, daß Ganja mit Aglaja in Korrespondenz stand. Aber als er noch zwei Zimmer zu passieren hatte, um wieder in den Salon zu gelangen, blieb er plötzlich stehen, als ob ihm etwas einfiele, blickte ringsum, trat ans Fenster, recht nahe an das Licht, und begann Nastasja Filippownas Bild zu betrachten.
Er hätte gern etwas enträtselt, was in diesem Gesicht verborgen lag und ihn vorhin frappiert hatte. Der Eindruck von vordem war ihm haftengeblieben, und er beeilte sich jetzt, ihn von neuem nachzuprüfen. Dieses durch seine Schönheit und noch durch sonst etwas auffallende Gesicht übte jetzt auf ihn eine noch stärkere Wirkung aus. Ein grenzenloser Stolz, eine grenzenlose Verachtung, die fast wie Haß aussah, lagen in diesem Gesicht und zu gleicher Zeit etwas Zutrauliches, erstaunlich Offenherziges; dieser Kontrast erweckte bei dem, der diese Züge betrachtete, sogar ein gewisses Mitleid. Diese blendende Schönheit war geradezu unerträglich, die Schönheit des blassen Gesichts, der beinah eingefallenen Wangen und der glühenden Augen; eine seltsame Schönheit! Der Fürst betrachtete das Bild wohl eine Minute lang; dann zuckte er auf einmal zusammen, blickte rings um sich, führte das Bild eilig an seine Lippen und küßte es. Als er eine Minute darauf in den Salon trat, war sein Gesicht wieder vollkommen ruhig.
Aber als er in das Eßzimmer gelangte, das noch durch ein Zimmer vom Salon getrennt war, stieß er in der Tür beinah mit der herauskommenden Aglaja zusammen. Sie war allein.
»Gawrila Ardalionowitsch hat mich gebeten, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte der Fürst, indem er ihr das Billett hinreichte. Aglaja blieb stehen, nahm das Billett und blickte den Fürsten seltsam an. In ihrem Blick lag nicht die geringste Verlegenheit, nur ein gewisses Erstaunen mochte daraus hervorschimmern, und auch dieses Erstaunen schien sich nur auf den Fürsten zu beziehen. Aglaja forderte durch ihren Blick von ihm gleichsam Rechenschaft darüber, wie es zuginge, daß er in dieser Angelegenheit mit Ganja im Bunde sei; und sie benahm sich dabei mit aller Ruhe und von oben herab. Zwei oder drei Sekunden lang standen sie einander gegenüber; endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht eine schwache Nuance von Spott; sie lächelte leise und ging vorüber.
Die Generalin betrachtete eine Zeitlang schweigend und mit einem leisen Ausdruck von Geringschätzung Nastasja Filippownas Bild, das sie mit ausgestrecktem Arm sehr weit von den Augen hielt.
»Ja, schön ist sie«, sagte sie endlich, »sogar sehr schön. Ich habe sie zweimal gesehen, aber nur von weitem. Also eine solche Schönheit bewundern Sie?« wandte sie sich plötzlich an den Fürsten.
»Eine solche ... ja ...«, antwortete der Fürst mit einiger Überwindung.
»Gerade eine solche?«
»Ja.«
»Warum denn?«
»In diesem Gesicht ... liegt so viel Leid ...«, sagte der Fürst; es schien, als kämen diese Worte unwillkürlich aus seinem Mund, und als antwortete er nicht auf die Frage, sondern spräche für sich.
»Das ist übrigens vielleicht nur eine Phantasie von Ihnen«, bemerkte die Generalin kurz und warf mit einer hochmütigen Gebärde das Bild von sich weg auf den Tisch.
Alexandra nahm es in die Höhe, Adelaida trat zu ihr, und beide begannen es zu betrachten.
In diesem Augenblick kehrte Aglaja wieder in den Salon zurück.
»Das ist eine gewaltige Macht!« rief auf einmal Adelaida, die über die Schulter ihrer Schwester hinweg das Bild mit größtem Interesse ansah.
»Wieso? Inwiefern eine Macht?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton.
»Eine solche Schönheit ist eine Macht«, erwiderte Adelaida enthusiastisch. »Mit einer solchen Schönheit kann man die Welt umdrehen!«
In ihre Gedanken versunken ging sie zu ihrer Staffelei. Aglaja sah das Bild nur flüchtig an, kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe vor, ging zur Seite und setzte sich da mit zusammengelegten Händen hin.
Die Generalin klingelte.
»Rufe Gawrila Ardalionowitsch her; er ist im Arbeitszimmer«, befahl sie dem eintretenden Diener.
»Aber Mama!« rief Alexandra mit bedeutsamer Betonung.
»Ich will ihm nur wenige Worte sagen, und damit basta!« erklärte die Generalin schnell in bestimmtem, scharfem Ton, der jede Widerrede abschnitt.
Sie befand sich offenbar in gereizter Stimmung.
»Sehen Sie, Fürst, bei uns hier gibt es jetzt lauter Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Die Etikette verlangt das, obwohl es eine Dummheit ist. Und noch dazu bei einer Sache, bei der die größte Offenheit, Klarheit und Ehrlichkeit erforderlich ist. Es sind Eheschließungen im Werke; aber diese Ehen wollen mir gar nicht gefallen ...«
»Mama, was reden Sie da?« unterbrach Alexandra sie wieder eilig, um sie von weiteren Äußerungen zurückzuhalten.
»Was willst du, liebe Tochter? Gefallen sie denn dir selbst?