Schuld und Sühne. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188675
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von unserer festen Zuversicht fallen lassen, daß er uns helfen werde, Dich mit Geld zu unterstützen, solange Du noch auf der Universität bist; wir sprachen nicht davon, erstens, weil er mit der Zeit ganz von selbst kommt und weil er es uns doch sicher selbst, ohne viele Worte, anbieten wird (kann er denn Dunjetschka etwas abschlagen?), um so mehr, als Du seine rechte Hand im Bureau werden kannst und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, sondern als ein verdientes Gehalt bekommen kannst. So will es Dunjetschka einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Zweitens haben wir mit ihm darüber nicht gesprochen, weil ich durchaus möchte, daß Du bei der bevorstehenden Begegnung auf dem gleichen Fuße mit ihm stehen sollst. Als Dunja zu ihm mit Entzücken über Dich sprach, antwortete er, daß man jeden Menschen zuerst persönlich und aus nächster Nähe sehen müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich selbst vorbehalte, nachdem er Dich einmal kennengelernt, seine Meinung über Dich zu bilden. Weißt Du was, mein teuerer Rodja, mir scheint aus gewissen Erwägungen, (die sich übrigens gar nicht auf Pjotr Petrowitsch beziehen, sondern aus meinen eigenen, persönlichen Erwägungen, vielleicht sogar aus einer Altweiberlaune) – mir scheint, daß ich vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Hochzeit allein, so wie jetzt, lebe, und nicht mit ihnen. Ich bin fest davon überzeugt, daß er so vornehm und zartfühlend sein wird, mich selbst einzuladen und aufzufordern, mich von meiner Tochter nicht zu trennen; wenn er darüber noch nicht gesprochen hat, so doch natürlich nur darum, weil es sich auch ohne Worte ganz von selbst versteht; ich werde aber die Einladung nicht annehmen. Ich habe in meinem Leben mehr als einmal gesehen, daß die Schwiegermütter den Männern nicht sehr sympathisch sind, ich aber will nicht nur keinem Menschen zur Last fallen, sondern auch vollkommen frei und unabhängig sein, solange ich noch ein Stück Brot und solche Kinder habe wie Dich und Dunjetschka. Wenn es geht, werde ich mich in Euerer Nähe niederlassen, denn das Angenehmste habe ich für den Schluß des Briefes aufgespart, Rodja: erfahre nun, mein lieber Freund, daß wir uns alle drei vielleicht sehr bald nach der fast dreijährigen Trennung wiedersehen und umarmen werden! Es ist schon festbeschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg reisen; wann, weiß ich noch nicht, jedenfalls aber sehr, sehr bald, vielleicht sogar in einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Pjotr Petrowitschs ab, der uns, sobald er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben wird. Aus verschiedenen Gründen will er die Eheformalitäten möglichst beschleunigen und die Hochzeit womöglich in der Fastnachtswoche feiern, und wenn das infolge der kurzen Frist nicht mehr geht, dann gleich nach Mariä Himmelfahrt. Oh, mit welchem Glück werde ich Dich an mein Herz drücken! Dunja ist vor Freude, Dich wiederzusehen, ganz aufgeregt und hat einmal im Scherz gesagt, daß sie schon deswegen den Pjotr Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein Engel! Sie schreibt Dir diesmal nicht, bittet mich aber, Dir zu schreiben, daß sie mit Dir so viel zu sprechen hat, so viel, daß sie sich jetzt scheut, nach einer Feder zu greifen, – weil man in einigen Zeilen gar nichts sagen, sondern sich nur aufregen kann; sie läßt Dich herzlich umarmen und unzähligemal küssen. Obwohl wir uns vielleicht sehr bald sehen werden, werde ich Dir dieser Tage Geld, soviel ich kann, schicken. Jetzt, wo alle erfahren haben, daß Dunjetschka Pjotr Petrowitsch heiratet, ist auch mein Kredit gestiegen, und ich weiß auch ganz bestimmt, daß Afanassij Iwanowitsch mir jetzt auf meine Pension hin eine größere Summe vorstrecken wird, vielleicht sogar fünfundsiebzig Rubel, so daß ich Dir vielleicht fünfundzwanzig oder sogar dreißig Rubel schicken werde. Gern würde ich Dir noch mehr schicken, aber ich fürchte die Reisekosten; obwohl Pjotr Petrowitsch so gut war, einen Teil der Kosten unserer Reise nach Petersburg auf sich zu nehmen, – er hat uns nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und den großen Koffer auf eigene Rechnung (irgendwie durch Bekannte) zu befördern, müssen wir aber doch auch mit dem Aufenthalt in Petersburg rechnen, wo man doch wenigstens in den ersten Tagen nicht ohne einen Pfennig Geld dasitzen darf. Ich habe übrigens schon alles mit Dunjetschka genau berechnet, und es kam dabei heraus, daß die Reise selbst nicht viel kosten wird. Bis zur Bahnstation sind es nur neunzig Werst, und wir haben uns schon für jeden Fall mit einem bekannten Bauern, der Fuhrmann ist, geeinigt; in der Eisenbahn fahren wir aber glücklich in der dritten Klasse. So ist es möglich, daß es mir gelingt, Dir nicht fünfundzwanzig, sondern ganz sicher dreißig Rubel zu schicken. Doch genug davon; zwei Bogen habe ich vollgeschrieben, und es bleibt kein Platz mehr übrig. Da hast Du unsere ganze Geschichte; nun, es hat sich ja eine Menge von Ereignissen angesammelt! Ich umarme Dich, mein teuerer Rodja, bis zu unserem baldigen Wiedersehen und schicke Dir meinen mütterlichen Segen. Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und wisse, daß sie Dich grenzenlos, mehr als sich selbst liebt. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, Du bist unsere ganze Hoffnung und unsere ganze Zuversicht. Wenn Du bloß glücklich bist, so sind wir auch glücklich. Betest Du noch zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst Du an die Güte unseres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, ob Dich nicht schon der neueste moderne Unglaube angesteckt hat. Wenn dem so ist, so bete ich für Dich. Denke doch, Liebster, daran, wie Du in Deiner Kindheit, als Dein Vater noch lebte, auf meinen Knien Deine Gebete stammeltest und wie glücklich wir damals waren! Lebe wohl, oder besser: Auf Wiedersehen! Ich umarme Dich fest und küsse Dich unzählige Male.

      Bis zum Grabe Deine

      Pulcheria Raskolnikowa.«

      Fast die ganze Zeit, als Raskolnikow diesen Brief las, gleich von Anfang an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er ihn aber zu Ende gelesen hatte, war es bleich, von einem Krampfe verzerrt, und ein schweres, galliges, böses Lächeln spielte um seine Lippen. Er ließ seinen Kopf auf das magere und abgenutzte Kissen fallen und dachte lange, lange nach. Mächtig schlug sein Herz, und mächtig regten sich seine Gedanken. Schließlich wurde es ihm in dieser gelben Kammer, die einem Schrank oder einem Koffer glich, zu dumpf und zu eng. Seine Blicke und Gedanken verlangten nach Freiheit und Raum. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu begegnen; er hatte das ganz vergessen, er schlug die Richtung nach der Wassiljewski-Insel durch den W–schen Prospekt ein, als eile er in einer wichtigen Angelegenheit hin; er ging aber, wie immer, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hinflüsternd und sogar laut mit sich selbst sprechend, wodurch er die Vorübergehenden in Erstaunen setzte. Viele hielten ihn für betrunken.

      IV

      Der Brief der Mutter hatte ihn müdegequält. Doch über den wichtigsten Punkt, den Kardinalpunkt, war er auch nicht einen Augenblick im Zweifel, selbst als er den Brief noch nicht zu Ende gelesen hatte. Die Hauptsache war in seinem Kopfe beschlossen, und zwar unumstößlich beschlossen: »Aus der Heirat wird nichts, solange ich lebe, und zum Teufel mit dem Herrn Luschin!«

      »Denn die Sache ist ja ganz klar«, murmelte er vor sich hin, grinsend und über den Erfolg seines Entschlusses im voraus triumphierend. – »Nein, Mama, nein, Dunja, ihr werdet mich nicht anführen! ... Und sie entschuldigen sich noch, daß sie mich nicht um Rat gefragt und die Sache ohne mich entschieden haben! Das will ich meinen! Sie glauben, daß es nicht mehr zu zerreißen ist; wir wollen sehen, ob es geht, oder nicht geht! Was für eine kapitale Ausrede: ›Pjotr Petrowitsch ist so beschäftigt, so furchtbar beschäftigt, daß er nicht anders als mit der Post, beinahe mit der Eisenbahn heiraten kann!‹ Nein, Dunjetschka, ich sehe alles und weiß, worüber du mit mir so viel zu sprechen hast; ich weiß auch, worüber du dachtest, als du die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gingst und vor dem Bilde der Mutter Gottes von Kasan betetest, das in Mamas Schlafzimmer steht. Der Gang nach Golgatha ist wohl schwer. Hm! ... Es ist also schon endgültig beschlossen: einen tüchtigen Geschäftsmann und Rationalisten belieben Sie zu heiraten, Awdotja Romanowna, der sein Kapital besitzt (der schon sein eigenes Kapital besitzt: das klingt solider und eindrucksvoller), der zwei Stellungen bekleidet, die Überzeugungen der jüngsten Generation teilt (wie Mama schreibt) und auch gut zu sein scheint, heiraten! Großartig! ... Großartig! ...

      Es ist immerhin interessant, warum Mama mir das über ›die jüngste Generation‹ geschrieben hat: bloß zur Charakteristik der Person, oder mit einer weiteren Absicht: mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? O diese Schlauen! Interessant wäre es, auch noch diesen Umstand aufzuklären: wie weit ging ihre gegenseitige Aufrichtigkeit an jenem Tage, in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit? Wurde alles in Worte gekleidet, oder hatte eine jede erraten, was die andere denkt und auf dem Herzen hat, so daß man es gar nicht laut auszusprechen brauchte und es sogar überflüssig wäre, ein Wort zu viel zu sagen? Wahrscheinlich verhielt es sich