»Es soll nicht geschehen? Und was willst du tun, damit es nicht geschieht? Wirst du es verbieten? Was für ein Recht hast du dazu? Was kannst du ihnen deinerseits versprechen, um dieses Recht zu beanspruchen? Dein ganzes Schicksal, deine ganze Zukunft ihnen zu weihen, wenn du die Studien absolviert und einen Posten bekommen hast? Das haben wir schon gehört, das ist das ›B‹, wo ist aber das ›A‹, was soll ich jetzt tun? Man muß doch jetzt gleich etwas unternehmen, verstehst du das? Was tust du aber jetzt? Du beutest sie doch nur aus. Sie bekommen ihr Geld doch nur als Vorschuß auf ihre Pension oder auf das Gehalt von einem Herrn Swidrigailow! Wie willst du sie denn vor den Swidrigailows, vor Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der du ihr Schicksal in deiner Hand hast? Nach zehn Jahren? Nach zehn Jahren wird aber deine Mutter vor dem Tücherstricken, vielleicht auch vor Tränen erblindet sein; wird am Fasten zugrunde gehen; und die Schwester? Nun, denk dir mal aus, was mit deiner Schwester nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren geschehen kann! Weißt du es?«
So quälte und reizte er sich mit diesen Fragen, sogar mit einer gewissen Wollust. Alle diese Fragen waren übrigens nicht neu und plötzlich, sondern alt und in Schmerzen gereift. Seit langem hatten sie ihn zu martern angefangen und ihm sein Herz zerrissen. Sein jetziger Gram war in ihm schon längst entstanden; er war gewachsen, hatte sich angesammelt, war in der letzten Zeit zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die Gestalt einer schrecklichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die sein Herz und seinen Geist zerquälte und gebieterisch nach Lösung verlangte. Der Brief der Mutter hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Es war ihm klar, daß er jetzt weder passiv trauern und leiden noch sich mit den Erörterungen, daß diese Fragen unlösbar seien, zermartern durfte, sondern unbedingt sofort und schnell etwas unternehmen mußte. Um jeden Preis mußte er sich zu etwas entschließen, ganz gleich wozu – oder ...
»Oder sich ganz vom Leben lossagen!« rief er plötzlich wie rasend. – »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal hinnehmen, in sich alles ersticken, auf jedes Recht, zu handeln, zu leben und zu lieben, verzichten! ...«
»Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr, was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?« Plötzlich fiel ihm die gestrige Frage Marmeladows ein. »Denn jeder Mensch muß doch irgendwo hingehen können ...«
Plötzlich fuhr er zusammen: ein Gedanke, ein gestriger Gedanke durchzuckte ihn wieder. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihn dieser Gedanke durchzuckte. Er wußte ja, er ahnte, daß der Gedanke ihn unbedingt »durchzucken« würde, und er erwartete ihn; der Gedanke war ja auch gar nicht von gestern. Der Unterschied bestand aber darin, daß der Gedanke vor einem Monat, selbst noch gestern ein bloßer Traum war, doch jetzt ... ihm nicht als Traum erschien, sondern in einer neuen, drohenden und ihm völlig unbekannten Gestalt ... und das kam ihm plötzlich zum Bewußtsein ... Er fühlte einen heftigen Schmerz im Kopf, und es wurde ihm finster vor den Augen.
Er sah sich schnell um, er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank; er ging aber gerade durch den K–schen Boulevard. Etwa hundert Schritte vor ihm stand eine Bank. Er ging, so schnell er konnte, auf sie zu; doch unterwegs hatte er ein kleines Erlebnis, das für einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit fesselte.
Als er sich nach einer Bank umschaute, sah er etwa zwanzig Schritte vor sich ein weibliches Wesen gehen, schenkte ihm aber zuerst ebensowenig Beachtung wie allen Gegenständen, die an ihm vorbeihuschten. Es passierte ihm oft, daß er z.B. nach Hause ging und zuletzt gar nicht mehr wußte, welchen Weg er gegangen war; er war es schon gewöhnt. Doch an der Person, die vor ihm ging, war etwas so Seltsames, gleich auf den ersten Blick in die Augen Fallendes, daß er seine Aufmerksamkeit allmählich auf sie lenkte, – zuerst unwillkürlich und sogar ärgerlich, dann aber immer intensiver. Plötzlich kam ihm der Wunsch, sich klar zu machen, was an dieser Person so seltsam war? Erstens war sie wohl noch ein blutjunges Ding, sie ging in der Hitze mit bloßem Kopf, ohne Schirm und ohne Handschuhe und bewegte komisch die Hände. Sie hatte ein Kleidchen aus leichtem Seidenstoff an; es saß aber sehr merkwürdig, war kaum zugeknöpft und hinten an der Taille, wo der Rock anfängt, zerrissen; ein ganzer Fetzen hing herab. Ein kleines Tüchlein war um den bloßen Hals geworfen, doch es saß irgendwie schief. Außerdem ging das Mädchen mit unsicheren Schritten, stolpernd und sogar schwankend. Diese Begegnung erregte endlich die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikows. Er holte das Mädchen vor der Bank ein; als sie aber die Bank erreichte, ließ sie sich sofort in eine Ecke fallen, warf den Kopf in die Lehne zurück und schloß die Augen, anscheinend in äußerster Erschöpfung. Als er sie näher betrachtete, sah er gleich, daß sie gänzlich betrunken war. Der Anblick war seltsam und erschütternd. Er glaubte sogar, daß er sich getäuscht habe. Er sah vor sich ein außerordentlich jugendliches Gesichtchen von sechzehn, vielleicht auch nur von fünfzehn Jahren, doch auffallend gerötet und gleichsam geschwollen. Das Mädchen schien nicht bei vollem Bewußtsein; es hatte ein Bein über das andere geschlagen und zeigte davon viel mehr, als anständig war; anscheinend wußte es kaum, daß es sich auf der Straße befand.
Raskolnikow setzte sich nicht, wollte auch nicht weggehen, sondern stand ratlos vor ihr. Dieser Boulevard ist auch sonst immer menschenleer, doch jetzt um die zweite Nachmittagstunde und bei dieser Hitze war fast kein Mensch da. Aber etwas abseits, etwa fünfzehn Schritte von der Bank, am Rande des Boulevards, war ein Herr stehen geblieben, dem man es ansah, daß er sich dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten nähern wollte. Auch er hatte sie wohl schon aus der Ferne erblickt und einzuholen versucht, aber Raskolnikow war ihm in den Weg gekommen. Er warf ihm boshafte Blicke zu, bemühte sich übrigens, daß er es nicht merke, und wartete ungeduldig, daß der zerlumpte Kerl weggehe, damit er an die Reihe komme. Der Sachverhalt war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, feist, wohlbeleibt, frisch wie Milch und Blut, mit rosigen Lippen und kleinem Schnurrbart und sehr elegant gekleidet. Raskolnikow ärgerte sich furchtbar; er spürte plötzlich Lust, diesen dicken Gecken irgendwie zu beleidigen. Er verließ für eine Weile das Mädchen und ging auf den Herrn zu.
»He, Sie, Swidrigailow! Was wollen Sie hier?« schrie er, die Fäuste ballend, während ein Lächeln seine Lippen verzerrte, auf die vor Wut Schaum getreten war.
»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, mit hochmütigem Erstaunen, die Stirne runzelnd.
»Packen Sie sich, heißt das!«
»Wie unterstehst du dich, Kanaille! ...«
Und er holte mit seiner Gerte aus. Raskolnikow stürzte sich mit den Fäusten auf ihn hin, ohne zu bedenken, daß der kräftige Herr auch mit zwei solchen, wie er, fertig werden könnte. Doch in diesem Augenblick packte ihn jemand fest von hinten, und zwischen ihnen erschien ein Schutzmann.
»Lassen Sie es, meine Herren, Sie dürfen sich an einem öffentlichen Platze nicht herumschlagen. Was wollen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikow, als er seine zerlumpte Kleidung bemerkte.
Raskolnikow betrachtete ihn aufmerksam. Es war ein braves Soldatengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem klugen Blick.
»Sie brauche ich eben«, rief er, ihn bei der Hand packend. »Ich bin ehemaliger Student, Raskolnikow ... Das dürfen Sie auch erfahren«, wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie mal mit, ich will Ihnen etwas zeigen ...«
Er packte den Schutzmann bei der Hand und schleppte ihn zur Bank ...
»Hier, schauen Sie, ganz betrunken ist sie, soeben ging sie durch den Boulevard; wer weiß, was sie ist, sie sieht aber nicht so aus, als ob es ihr Gewerbe wäre. Wahrscheinlich hat man sie irgendwo betrunken gemacht und verführt ... zum erstenmal ... verstehen Sie? ... und hat sie dann laufen lassen. Schauen Sie nur, wie ihr Kleid zerrissen ist und wie es sitzt; man hat es ihr angezogen, nicht sie selbst, ungeschickte Männerhände haben es ihr angezogen. Das sieht man. Jetzt aber schauen Sie bitte her: dieser Geck, den ich eben schlagen wollte, – ich kenne ihn nicht und sehe ihn zum erstenmal; er hat sie auch soeben bemerkt, wie sie betrunken und bewußtlos ging, und hat furchtbar große Lust, sich an sie heranzumachen, sie abzufangen und, da sie in diesem Zustande ist, – irgendwohin zu verschleppen ... Es ist sicher so; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich nicht täusche.