Schuld und Sühne. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188675
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ihn. Er war gar nicht dumm, wenn er auch zuweilen einen einfältigen Eindruck machte. Sein Außeres war sehr eindrucksvoll: er war groß, hager, immer schlecht rasiert und schwarzhaarig. Zuweilen machte er Skandal und galt als stark. Eines Nachts hatte er in lustiger Gesellschaft mit einem Hiebe einen hünenhaften Hüter der öffentlichen Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unendlich viel, konnte sich aber auch des Trinkens enthalten; manchmal stellte er Dinge an, die ans Unerlaubte grenzten, er konnte aber auch nichts anstellen. Rasumichin war auch in der Beziehung bemerkenswert, daß ihn kein Mißerfolg entmutigte und keine noch so widrigen Verhältnisse zu erdrücken vermochten. Er war imstande, selbst auf einem Dache zu wohnen, höllischen Hunger und jede Kälte zu leiden. Er war sehr arm und verschaffte sich selbst seinen Unterhalt durch irgendwelche Arbeiten. Er kannte eine Menge Quellen, um aus ihnen zu schöpfen, natürlich durch ehrliche Arbeit. Einmal heizte er einen ganzen Winter seine Kammer nicht und behauptete, daß es so angenehmer sei, weil man in der Kälte besser schlafen könne. Zurzeit war er gezwungen, die Universität zu verlassen, doch nur vorübergehend, und bemühte sich aus allen Kräften, seine Verhältnisse zu bessern, um das Studium fortsetzen zu können. Raskolnikow hatte ihn seit vier Monaten nicht besucht, und Rasumichin kannte Raskolnikows Wohnung nicht. Vor zwei Monaten waren sie sich einmal zufällig auf der Straße begegnet, Raskolnikow hatte sich aber abgewandt und war auf die andere Straßenseite hinübergegangen, damit jener ihn nicht sehe. Rasumichin hatte ihn zwar gesehen, ging aber vorbei, weil er den Freund nicht belästigen wollte.

      V

      »In der Tat, ich hatte doch vor kurzem die Absicht, Rasumichin zu bitten, daß er mir eine Arbeit oder Stunden verschaffe ...« erinnerte sich Raskolnikow, »womit kann er mir aber jetzt helfen? Angenommen, daß er mir Stunden vermittelt, angenommen, daß er mit mir die letzte Kopeke teilt, wenn er überhaupt eine Kopeke hat, so daß ich mir sogar ein Paar Stiefel kaufen und meinen Anzug instandsetzen lassen kann ... hm ... Nun, und weiter? Was fange ich mit den Fünfkopekenstücken an? Brauche ich denn jetzt das? Es ist einfach lächerlich, daß ich zu Rasumichin wollte ...«

      Die Frage, warum er zu Rasumichin aufgebrochen war, beunruhigte ihn mehr, als er sich dessen bewußt war; mit Unruhe suchte er in dieser anscheinend so gewöhnlichen Handlung einen unheilkündenden Sinn.

      »Wie, will ich denn alles durch Rasumichin allein in Ordnung bringen, habe ich denn in Rasumichin den letzten Ausweg gefunden?« fragte er sich erstaunt.

      Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz von selbst und unerwartet, kam ihm nach langen Überlegungen ein sehr seltsamer Gedanke.

      »Hm ... zu Rasumichin«, sagte er sich plötzlich ganz ruhig, als sei es sein endgültiger Entschluß, »zu Rasumichin werde ich natürlich gehen, doch ... nicht jetzt ... Ich will zu ihm ... am anderen Tage nach dem gehen, wenn es schon vorbei ist und wenn alles sich gewendet hat ...«

      Plötzlich kam er zur Besinnung.

      »Nach dem«, rief er aus, von der Bank aufspringend: »Ja, wird denn das überhaupt sein? Wird es denn wirklich sein?«

      Er verließ die Bank und ging, oder rannte vielmehr fort; er wollte schon nach Hause zurückkehren, doch dieser Gedanke, nach Hause zu gehen, erschien ihm plötzlich widerlich: dort, in der Ecke, in jenem schrecklichen Schrank war das schon seit mehr als einem Monat gereift. Er ging nicht nach Hause, sondern aufs Geratewohl und ohne Ziel.

      Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er fühlte sogar Schüttelfrost; trotz dieser Hitze war es ihm kalt. Er begann, mit Anstrengung, beinahe unbewußt, aus irgendeiner inneren Notwendigkeit heraus, alle Gegenstände, denen er begegnete, zu betrachten, als suche er angestrengt nach Zerstreuung; dies wollte ihm aber nicht recht gelingen, und er versank jeden Augenblick wieder in seine Gedanken. Und wenn er zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so vergaß er sofort alles, was er sich eben gedacht hatte, selbst den Weg, den er gegangen war. Auf diese Weise durchschritt er die ganze Wassiljewskij-Insel, kam zur Kleinen Newa heraus, passierte die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das Grün und die frische Natur erfreuten anfangs seine müden Augen, die an den Staub, Kalk und an die großen, erdrückenden und beengenden Häuser der Stadt gewöhnt waren. Hier gab es weder die Schwüle, noch den Gestank, noch die Kneipen. Bald gingen aber diese neuen angenehmen Empfindungen in krankhafte und aufreizende über. Zuweilen blieb er vor einem im Grün liegenden, reichgeschmückten Landhause stehen, blickte durch den Zaun und sah in der Ferne auf den Balkonen und Terrassen ausgeputzte Frauen sitzen und im Garten Kinder herumlaufen. Besonders interessierten ihn die Blumen; auf ihnen verweilten seine Blicke am längsten. Er begegnete auch prunkvollen Equipagen, Reitern und Amazonen; er begleitete sie interessiert mit den Augen und vergaß sie, noch ehe sie seinen Blicken entschwanden. Einmal blieb er stehen und zählte sein Geld nach; er hatte noch an die dreißig Kopeken. »Zwanzig bekam der Schutzmann, drei – Nastasja für den Brief, also habe ich den Marmeladows gestern siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken gegeben«, sagte er sich, nachdem er aus irgendeinem Grunde diese Berechnung angestellt hatte, vergaß aber gleich, wozu er das Geld aus der Tasche hervorgeholt hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er an einer Speiseanstalt, einer Art Garküche vorbeiging, und er fühlte plötzlich Hunger. Er kehrte ein, trank ein Glas Schnaps und nahm dazu eine gefüllte Pastete. Diese aß er später im Gehen zu Ende. Er hatte seit sehr langer Zeit keinen Schnaps getrunken, und die Wirkung trat sofort ein, obwohl er nur ein einziges Glas getrunken hatte. Seine Füße wurden schwer, und er wollte schlafen. Er schlug den Weg nach Hause ein, als er aber schon die Petrowskij-Insel erreicht hatte, blieb er völlig erschöpft stehen, bog vom Wege ins Gebüsch ab, fiel ins Gras nieder und schlief sofort ein.

      Bei krankhaften Zuständen pflegen die Träume äußerst lebhaft und überzeugend zu sein und der Wirklichkeit täuschend ähnlich zu sehen. Dabei entsteht oft ein ganz ungeheuerliches Bild, aber alle Umstände und der ganze Vorstellungsprozeß sind dabei so natürlich und glaubhaft und enthalten so viele unerwartete, feine und in wunderbarem künstlerischem Gleichgewicht zu dem ganzen Bilde stehende Einzelheiten, wie sie dem Träumenden im wachen Zustande nie einfallen könnten, selbst wenn er ein Künstler wie Puschkin oder Turgenjew wäre. Solche krankhaften Träume prägen sich immer tief ins Gedächtnis ein und haben eine starke Wirkung auf einen kranken und bereits erregten Organismus.

      Raskolnikow sah einen schrecklichen Traum. Er sah sich in seine Jugend, in seine kleine Heimatstadt versetzt. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertag abends mit seinem Vater in der Vorstadt spazieren. Der Tag ist schwül, es dämmert, die Landschaft ist genau so, wie er sie in seiner Erinnerung bewahrt hat, sie ist sogar viel deutlicher gezeichnet als in der Erinnerung. Das ganze Städtchen ist leicht zu überblicken, in der Umgebung ist kein Strauch oder Baum zu sehen, nur am fernen Horizonte sieht man etwas Dunkles – ein Wäldchen. Einige Schritte hinter dem letzten Gemüsegarten des Städtchens steht eine Branntweinschenke. Sie machte auf ihn, sooft er mit seinem Vater vorüberging, den unangenehmsten Eindruck, sie flößte ihm sogar Schrecken ein. Eine johlende Menge stand immer um die Schenke herum, man schrie, lachte und sang mit heiseren, trunkenen Stimmen, und immer gab es da Schlägereien. Man begegnete hier schrecklich versoffenen Individuen, und er schmiegte sich jedesmal zitternd an seinen Vater. Dicht an der Schenke geht eine Fahrstraße vorbei, sie ist staubig, und der Staub ist immer schwarz. Die Straße schlängelt sich etwa dreihundert Schritte von der Schenke entfernt um den städtischen Friedhof. Auf dem Friedhof steht eine Kirche aus Backstein mit einer grünen Kuppel. Diese Kirche pflegte er mit seinen Eltern zweimal jährlich zu den Seelenmessen für seine Großmutter zu besuchen, die vor vielen Jahren gestorben war und die er nicht gekannt hatte. Sie nahmen dann jedesmal in einer weißen Serviette eine weiße Schüssel mit dem Totengericht mit; es bestand aus süßem Reisbrei, in den Rosinen in Form eines Kreuzes hineingedrückt waren. Er liebte diese Kirche und die alten Heiligenbilder, die zum großen Teil keine Beschläge hatten, und den alten Priester mit dem zitternden Kopf. Neben dem Grabstein der Großmutter war das kleine Grab seines Bruders, der im Alter von sechs Monaten gestorben war und den er gleichfalls nicht gekannt hatte; es wurde ihm aber gesagt, er hätte einmal einen kleinen Bruder gehabt, und er bekreuzte sich jedesmal voll Andacht und küßte das Grab. Und da träumte ihm, er gehe mit seinem Vater diese Straße zum Friedhof an der Schenke vorbei. Er hat den Arm des Vaters umklammert und blickt ängstlich zu der Schenke hinüber. Sie interessiert