Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, doch sein Kinn begann plötzlich heftig zu zittern. Er beherrschte sich aber. Diese Schenke, sein liederliches Aussehen, die fünf Nächte auf den Heubarken und die Schnapsflasche, zugleich aber diese krankhafte Liebe zur Frau und Familie hatten seinen Zuhörer ganz wirr gemacht. Raskolnikow hörte ihm gespannt, doch mit schmerzvollem Gefühl zu. Er ärgerte sich, daß er hier eingekehrt war.
»Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr!« rief Marmeladow aus, als er sich wieder zusammengenommen hatte. »Oh, mein Herr, vielleicht kommt Ihnen das alles lächerlich vor, wie den andern, und ich belästige Sie nur mit der Dummheit dieser elenden Einzelheiten meines Lebens, aber mir ist es wirklich nicht zum Lachen! Denn ich kann das alles fühlen! ... Und im Verlauf jenes paradiesischen Tages meines Lebens und des ganzen Abends gab ich mich auch selbst flüchtigen Träumen hin: wie ich wohl alles einrichten und den Kindern Kleider kaufen werde, wie ich ihr selbst die Ruhe gebe und meine einzige Tochter aus der Schmach in den Schoß der Familie zurückbringe ... Und vieles, vieles andere ... Das durfte ich wohl, mein Herr! Und nun, mein Herr (Marmeladow fuhr plötzlich zusammen, hob den Kopf und blickte seinen Zuhörer aufmerksam an), nun, am nächsten Tage nach diesen Träumen – es werden genau fünf Tage her sein –, gegen Abend, stahl ich auf listige Weise, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel von ihrem Koffer, nahm alles, was vom mitgebrachten Gehalt noch übrig blieb, wieviel es war, weiß ich nicht mehr, und nun, sehen Sie mich an, jetzt ist es alle! Den fünften Tag bin ich von zu Hause weg, sie suchen mich dort, und auch die Stelle ist hin, und mein Uniformfrack liegt in der Schenke bei der Egyptischen Brücke, und im Tausch dafür habe ich diese Bekleidung erhalten ... und alles ist zu Ende!«
Marmeladow schlug sich mit der Faust vor die Stirn, preßte die Zähne zusammen und stemmte den Ellenbogen fest gegen den Tisch. Doch nach einer Minute schon war sein Gesicht wieder verändert, er blickte Raskolnikow mit gespielter Verschmitztheit und Frechheit an, lachte und sagte:
»Und heute war ich bei Ssonja, habe sie um Geld zu Schnaps, zur Stärkung nach dem letzten Rausch, gebeten! He-he-he!«
»Hat sie's gegeben?« schrie jemand von den Neuangekommenen abseits; er schrie es und fing aus vollem Halse zu lachen an.
»Hier diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft«, sagte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken gab sie mir, mit eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, das hab' ich selbst gesehen ... Sie sagte nichts, sah mich nur schweigend an ... So klagt und weint man über die Menschen nicht hier auf Erden ... sondern dort ... und ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne ein Wort des Vorwurfs! Und das tut viel mehr weh, viel mehr weh, wenn man keinen Vorwurf zu hören bekommt! ... Dreißig Kopeken, jawohl. Sie braucht aber das Geld selbst, wie? Was glauben Sie, mein lieber Herr? Sie muß jetzt doch auf Reinlichkeit sehen! Diese Reinlichkeit, diese besondere Reinlichkeit kostet aber Geld, verstehen Sie? Nun, dann muß sie auch mal Pomade kaufen, anders geht es ja nicht; gestärkte Unterröcke muß sie haben, so ein elegantes Schuhchen, um ihr Füßchen zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen will. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Reinlichkeit bedeutet? Nun, und ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken weg genommen, um mich zu stärken! Und nun trinke ich! Und habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer wird mit so einem, wie ich, Mitleid haben? Wie? Tue ich Ihnen jetzt leid, mein Herr, oder nicht? Sag', mein Herr, tue ich dir leid, oder nicht? He-he-he-he!«
Er wollte sich wieder einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer.
»Was soll man mit dir Mitleid haben?« rief der Wirt, der plötzlich neben ihnen stand.
Man hörte Lachen und sogar Schimpfen. Alle, die Marmeladow zugehört hatten, und auch solche, die ihm nicht zugehört hatten, lachten und schimpften beim bloßen Anblick des verabschiedeten Beamten.
»Mitleid haben?! Was soll man mit mir Mitleid haben?!« schrie plötzlich Marmeladow, so laut er konnte, mit vorgestrecktem Arm aufstehend, in sichtbarer Begeisterung, als hätte er auf diese Worte nur gewartet. »Was man mit mir Mitleid haben soll, fragst du? Ja! Man soll auch kein Mitleid mit mir haben! Man muß mich kreuzigen, ans Kreuz schlagen, und nicht bemitleiden! Doch kreuzige, Richter, kreuzige ihn, und nachdem du ihn gekreuzigt hast, hab' mit ihm Mitleid! Und dann komme ich selbst zu dir, um mich kreuzigen zu lassen, denn ich suche keine Freude, sondern Schmerz und Tränen! ... Glaubst du vielleicht, du Schnapsverkäufer, daß diese Flasche mir süß war? Trauer, Trauer suchte ich auf ihrem Grunde, Trauer und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; bemitleiden wird uns aber der, der mit allen Mitleid hatte, der alle und alles verstand. Er ist der Einzige, er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich einer bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und fremden kleinen Kindern zuliebe verkauft hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, dem abscheulichen Trunkenbold, ohne vor seiner Tierheit zurückzuschrecken, Mitleid gehabt hat?‹ Und er wird sagen: ›Komm! Ich habe dir schon einmal vergeben ... Ich habe dir einmal vergeben ... Vergeben werden dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebet hast ...‹ Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben, ich weiß es, daß er ihr vergeben wird ... Das fühlte ich, als ich neulich bei ihr war, in meinem Herzen! Und er wird alle richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Demütigen ... Und wenn er mit allen fertig sein wird, da wird an uns der Ruf ergehen: ›Kommt‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommt, ihr Trunkenen, kommt, ihr Schwachen, kommt, ihr Schamlosen!‹ Und wir werden alle, ohne uns zu schämen, vortreten und uns vor ihn hinstellen. Und er wird sagen: ›Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres und mit seinem Siegel Gezeichnete!