Nach Schulschluss blieb Matthis wie mit seiner Mutter verabredet bei seinem Freund Walter. Walter war der Sohn von Lehrer Hempelmann und der einzige, der nach der Konfirmation in die Stadt gehen würde. Dort würde er bei einer entfernten Cousine wohnen und das dortige Gymnasium besuchen. Walter wäre lieber auf dem Land geblieben, früher hatten sie oft über die Idee gelacht, schlichtweg zu tauschen. »Vater wäre glücklich, dass sein Sohn pariert und gern die Schweine füttert, und ich könnte in der Stadt was erleben!«
»Genau, ich bräuchte mir nicht nächtelang irgendwelchen Kram einbläuen, den ich nie verstehen werde, und du könntest nicht nur, nein du müsstest sogar jeden Tag lesen und lernen. Ich hingegen ginge jeden freien Tag zum Schmiedebach zum Angeln und machte mir um nichts mehr Sorgen. Alle wären glücklich und zufrieden.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Schade, dass wir jetzt erwachsen werden, nicht?«
Aber Matthis grinste dabei. Walter schubste ihn freundschaftlich und begann eine Balgerei. Die Jungen kugelten über die Wiese, boxten sich in die Rippen und tollten herum, als gäbe es kein Morgen.
»Komm, lass uns angeln gehen, nach einem solchen Regen beißen sie gut«, forderte Walter ihn nach einer Weile auf, und sie trabten hinunter zum Bach und versuchten, mit selbstgemachten Angeln einen der wenigen kleinen Fische zu erwischen. Er als sein Magen anfing zu knurren, sagte Matthis: »Ich muss jetzt heim, sonst gibt es Ärger. Ich weiß sowieso nicht, warum ich heute hier sein durfte, was in Mutter gefahren ist. Und -«, er grinste resigniert, »– wer die Schweine heute füttert, weiß ich auch nicht!«
»Dann grüß die Schweine!« Walter feixte.
»Noch sechs Wochen!«
»Ja, noch sechs Wochen!« Alle Jungs der letzten Klasse verabschiedeten sich seit Weihnachten mit der jeweiligen Wochenzahl, die es dauern würde, bis sie aus der Schule kamen.
8.
»Wir haben viel Zeit, in ein und einer halben Stunde sind wir da, und das ist immer noch vor Mittag!«
»Aber ich möchte stramm gehen, ich will sehen, ob ich es schaffe, schließlich will ich ja nach Hause zurück!«
»Anna hat gesagt, wir sollen es langsam angehen lassen und zwischendrin sogar rasten. Ich soll darauf achten, hat sie gesagt!« Matthis und Sieker waren am einem Samstag, morgens früh, aufgebrochen. Die Schule fiel heute für die Ältesten aus, Hempelmann gedachte, die Jüngeren vor Ostern gründlich zu examinieren. Anna hatte protestiert, Sieker sei bisher nicht gesund genug für diese Wanderung, er solle besser mit dem Wagen fahren, sie übernähme sonst keine Verantwortung. Der Tischler aber bestand darauf. »Die Luft wird mir guttun, nach all der langen Zeit, die ich gelegen habe, und meine Muskeln muss ich auch wieder anstrengen, damit sie sich ans Gehen gewöhnen«, hatte er entgegnet. Anna hatte achselzuckend eingewilligt, nicht ohne Matthis das Versprechen abzunehmen, darauf zu achten, dass der Patient nicht außer Atem geriete, genügend Wasser trinke und sich nur mäßig anstrenge. Matthis nahm diese Aufgabe ernst. Er hatte für den Weg zwei Stunden geplant, für die Strecke, die er allein leicht in einer schaffte, und sie waren im Augenblick schon eine halbe Stunde unterwegs. Der Tischler schritt weit aus, blieb aber manchmal stehen und schaute sich um. Er hustete.
Der Schweiß lief ihr in die Augen, der Rücken schmerzte, die Beine taten weh und Hannah hatte nur einen einzigen Wunsch, Ruhe. Eine Pause, ein paar Minuten still sitzen. Aber die Ziegen brauchten das frische Heu jetzt, außerdem wurde es Zeit, nach Paul zu sehen und das Abendbrot vorzubereiten. Sie liebte ihren Sohn so, wie er war, von ganzem Herzen. Trotz alledem träumte sie in geheimen Momenten, er würde eines Tages erwachsen werden und ihr bei der Arbeit helfen. Manchmal war ihr alles zu viel. Damals, bei Paulis Geburt, erst drei Jahre nach der Hochzeit, ach, da war sie so stolz auf ihn und auf sich gewesen. Paul, ihr Mann, hatte sich unbändig gefreut, endlich, ein Stammhalter! Zunächst hatte niemand gemerkt, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung war, nur seine Augen standen etwas schräg, das war ausgefallen, aber auf seine Art eindrucksvoll. Er war damals schon schwer und groß gewesen, Hannah hatte nach der Geburt lange gebraucht, bis sie sich vollends erholt hatte. Im ersten Jahr war alles beinah normal gewesen, dann aber kamen die Bemerkungen der Frauen.
»Er sollte langsam mal anfangen zu krabbeln, nicht?«
»Sagt er wenigstens schon Mama?«
»Wieso bekommt er immer noch Milch und Brei, so langsam kannst du doch umstellen?«
»Ja, ja, späte Mütter verwöhnen ihre Kinder!«
Sie selbst hatte sich kaum Gedanken gemacht, obwohl ihr als Hebamme auffiel, dass Pauli mit allem spät dran war. Er war so ein liebes, zufriedenes Kind, und sie fand ihn wunderbar. Dann geschah der Unfall und sie stand plötzlich allein mit dem Jungen da. Sie hatte just mit Pauli gespielt und endlich, mit fast 18 Monaten, hatte Pauli es geschafft, sich hochzuziehen und einen Schritt auf sie zuzumachen. Da hatte sie von weitem durch das geöffnete Fenster Rufe gehört. Sie erinnerte sich genau, wie sie das Kind auf den Arm genommen hatte und mit ihm gescherzt hatte, »komm, wir gucken mal, was da los ist!«, hatte sie gesagt und war mit ihm vor das Haus gegangen. Zwei Männer trugen auf einer Art Trage ihren Paul. Ihren kraftstrotzenden, lebenslustigen, liebevollen Mann. Sie brachten ihn gleich in die Kammer. Man sah ihm kaum etwas an, nur ein wenig Blut im Mundwinkel. Und blass war er, beinahe weiß. Sie hatte Pauli abgestellt, das war jetzt nicht wichtig, sie musste sehen, was mit Paul geschehen war.
»Georgs großer Hengst«, sagte einer der Träger mit zitternder Stimme. Hannah erkannte Willi, Georgs Nachbarn.
»Er hat ausgetreten, Paul hat den Huf direkt in die Brust gekriegt.« Er brachte das tonlos vor, war selbst blutleer und den Tränen nah.
»Jemand muss meine Schwester holen, sie soll Pauli zu sich nehmen, bis ich seinen Vater gesund gepflegt habe!«, hatte sie gesagt, und einer der Männer ging gleich los, aber da trat Georg auf sie zu, legte ihr die Hand schwer auf die Schulter und fragte: »Gesund?«
»Gesund! Und jetzt lasst mich in Ruhe, alle! Raus!« Sie hatte geschrien, hatte die Nachbarn hinausgeschmissen, aber geweint hatte sie nicht. Sie hatte sich warmes Wasser gemacht, Paul so behutsam wie möglich ausgezogen und angefangen, ihn zu waschen. Der riesengroße blaue Fleck direkt unter der linken Brust am Herzen hatte sie nicht abgeschreckt, sie war schonend, aber mit fester Hand vorgegangen. Sie hatte ihm Tee eingeflößt, der den Schmerz nehmen sollte und hatte dann den Oberkörper bandagiert. Immer wieder hatte sie Tee gekocht, ihm die Stirn gewischt, leise mit ihm gesprochen, zugesehen, wie sein Brustkorb sich hob und senkte, auf – ab – ein – aus. Solange der Mensch atmet, besteht Hoffnung, das hatte ihre Großmutter damals gesagt, als sie Hannah gezeigt hatte, wie man Wunden versorgt und sich um Kranke kümmert, und für Hannah war dieser Satz jetzt die Beschwörungsformel. Er atmet, ich habe Grund zur Hoffnung. Sie versuchte, zu beten, aber die richtigen Worte fielen ihr nicht ein. Irgendwann mussten ihr die Augen zugefallen sein, denn als sie aufschreckte, war es stockdunkel draußen. Sie zündete ein Licht an und warf zögernd einen Blick auf ihren Mann. Auf – ab. Er atmete. Sie begann die Prozedur von vorn, waschen, Tee einflößen, trösten. Am Morgen kam der Pastor vorbei, er hatte seine Frau mitgebracht, und die werkelte in der Küche, während der Geistliche seine Gebete sprach. »Wie geht es?«, hatte er mit mitleidigem Gesicht gefragt, und sie hatte erwidert: »Er atmet. Solange der Mensch atmet, besteht Hoffnung.« Frau Decius kam herein, einen Teller Suppe tragend. Sie stellte ihn auf ein Tischchen neben dem Bett, legte einen Löffel daneben, eine Serviette, ein Stück Brot. »Du hilfst ihm nicht, wenn du hungerst!«, sagte sie und drückte Hannah das Essgerät in die Hand.
»Iss!«, befahl sie und blieb neben ihr stehen, bis der Teller leer war. Hannah aß, obwohl sie kaum schmeckte, was. Dann waren der Pastor und seine Frau fort, nicht ohne zu versprechen, wieder zu kommen. Hannah kochte Tee und schaute weiter zu, wie Paul atmete. Ab und zu kam jemand vorbei, Nachbarn, Verwandte, der Pastor wieder. Hannah bemerkte es kaum, tat, was sie konnte. Paul stöhnte kaum, lag nur da, mit geschlossenen Augen, aber er atmete. Erst nach vier