Anders Sein. Natascha Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natascha Neumann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754959770
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äh, gehe nicht zum Bäcker, äh, tut mir leid, aber äh …«

      Hannah setzte sich hin und zog die Kleine zwischen ihre Knie. Bedrückte das Kind irgendetwas?

      »Was ist los?«, fragte sie behutsam, trotzdem wurde Anna nervöser.

      »Ich soll es dir nicht sagen, hat Papa gesagt. Mama meint aber, du sollst es wissen, sie wollte mich heute hier abholen und es sagen, aber ich darf nichts sagen, das haben beide verboten!« Sie sprudelte in ihrer Not und Aufregung die Worte nur so heraus, holte kaum Luft, ihre Stimme überschlug sich fast und dann riss sie sich los und rannte weinend hinaus – direkt in ihre Mutter hinein. So erfuhr Hannah an diesem Abend, dass man ihren Sohn im Ort für ein Monstrum hielt, eine Missgeburt, ein Scheusal. Keines der aufdringlichen Weiber hatte sich getraut, ihr das ins Gesicht zu sagen, aber es wurde an jeder Ecke weitergetratscht: Die Hebamme zog das Pech an, ihr Kind war ein Idiot, und das Beste für alle wäre, sie würde mit dem Balg verschwinden. Niemand wollte mehr Hilfe von ihr, die Tees hatten man fortgeschmissen. Auf gar keinen Fall durfte sie in die Nähe einer Schwangeren kommen, man ahnte ja nur, welch schreckliches Schicksal das Baby erwartete, das sie auf die Welt holte!

      Georgs Frau Maria trottete an diesem Abend tief bedrückt mit ihrer Tochter nach Hause. Hannah war am Boden zerstört. Am liebsten würde sie ihr Pauli nehmen und weit, weit fort gehen – aber wohin? Hier hatte sie wenigstens ein paar Menschen, die zu ihr hielten und ihr halfen. Sie kam gut über die Runden mit dem Geld vom Käse. Ihre Schwester lebte in der Nähe, Georg und Maria, der Pastor und seine Frau unterstützten sie, wo immer es möglich war. Sie alle hatten ihren Pauli genauso gern wie sie. Aber das gemeine Getratsche traf sie trotzdem bis ins Mark. Diesen Menschen hatte sie ihre Zeit gewidmet, hatte sie, wenn nötig, mitten in der Nacht besucht, um Wunden zu versorgen, Kinder auf die Welt zu holen, kleine Blessuren und Unpässlichkeiten zu behandeln. Sie hatte ihnen vertraut, hatte gedacht, hierher und dazu zu gehören. Unter diesen Umständen aber war alles anders.

      Beinahe zehn Jahre lag das jetzt zurück, Hannah war im Ort geblieben, hatte weitergemacht, weil es keinen Ausweg gegeben hatte. Jeden Sonntag, wenn sie mit Pauli die Kirche besuchte, hatte der alte Geistliche das Kind auf den Arm genommen und geküsst, hatte eines Tages sogar seine Enkel mit ihm spielen lassen, als diese zu Besuch waren. Anna, Anton, Matthis, Peter und Erich waren für ihren Sohn immer Spielkameraden, wenn auch die beiden großen Jungs bald ihrem Vater nachplapperten, was für ein Idiot der Kleine sei. Sie waren stets liebevoll, sobald sie ihn trafen, und spielten geduldig mit ihm. Karl war eben Karl. Hannah hielt ihn im Grunde für einen netten Kerl, der aber eine Menge auf die Meinung der anderen gab. Feste Regeln, stures Einhalten von Verhaltensvorschriften und bloß nichts Neues begreifen müssen, dann ging es ihrem Schwager gut. Immer wieder schimpfte er lauthals darüber, dass sie als Witwe allein lebte und dass dieses Kind eine Schande sei. Trotzdem hatte sie schon oft beobachtet, dass er Pauli die größte Scheibe vom Honigbrot oder ein besonders gutes Stück Schinken zuschob, wenn keiner hinsah.

      Nach und nach hatten die Nachbarn vergessen, dass Pauli anders und fremd war, doch Hannah vergaß nie. Selbst als sie wieder als Hebamme angefragt wurde, lehnte sie ab und sagte nur, sie habe so viel mit den Ziegen zu tun, da ginge es eben nicht. Aber sie lehrte Anna alles, was sie wusste und freute sich, dass dieses anständige Mädchen die neue Hausfrau auf dem Meyerhof werden würde. Sie selbst träumte weiter von einem neuen Anfang, irgendwo, wo sie niemand kannte.

       9.

      Matthis und Sieker wanderten ausgesprochen gemächlich über flache lehmige Feldwege. Auf den Äckern zeigte sich das erste Grün, alles glänzte vom Regen des vergangenen Tages. Matthis hatte den längeren, aber weniger beschwerlichen Weg über die Felder gewählt, damit Sieker nicht außer Atem kam, trotzdem hustete dieser seit geraumer Zeit immer stärker. Mittlerweile führte der Weg ein bisschen bergauf, Matthis bemühte sich, langsam zu trotten, und plauderte wahllos über dies und das.

      »Schauen Sie, auf der linken Seite dort drüben ist der Hof von Ohmannsiek! Die halten Rinder, sehen sie, die Rotbunten da auf der Wiese? Das ist aber nur ein kleiner Teil, die haben noch viel mehr!« Matthis hielt an und wies mit dem Arm in die Richtung, sodass Sieker aufholen und gleichermaßen ein Weilchen stehen bleiben durfte. »Dort, wo die Schonung ist, fängt S. an. Wir sind gleich da, das dauert keine zehn Minuten mehr!« Der Junge betrachtete seinen Begleiter mit gerunzelter Stirn, sah, dass dieser außergewöhnlich schwitzte und ein tiefrotes Gesicht hatte. Nein, dieser Ausflug war eindeutig keine kluge Idee und zu früh gewesen, aber Sieker hatte darauf bestanden. »Ich muss ja irgendwann bald nach Hause zurück, meine Familie erwartet mich. Außerdem muss ich Geld verdienen, ich war viel zu lange weg! Wenn also deine Tante mir helfen kann, dann besuchen wir sie, und ich sehe dann auch gleich, wie es geht!«, hatte er am Abend zuvor gesagt, nachdem Matthis und Anna Bedenken geäußert hatten. Was hätte er, Matthis, darauf schon antworten können? Matthis nahm einen Rucksack von Rücken und entkorkte die Wasserflasche.

      »Hier, können Sie leertrinken, bei Tante Hannah gibt es bestimmt guten Tee!« Sieker schüttelte den Kopf, doch Matthis zeigte auf einen Baumstumpf, der in unmittelbarer Nähe am Rand des Weges stand.

      »Setzen Sie sich einen Moment und trinken Sie.« Sieker folgte dem gutgemeinten Vorschlag endlich, ließ sich nieder und nahm einen kleinen Schluck, setzte aber die Flasche gleich wieder ab.

      »Deine Tante, was ist eigentlich mit der? Lebt sie allein?«

      »Nein, sie lebt mit Paul, das ist ihr Sohn. Onkel Paul, also ihr Mann, ist von einem Hengst totgeschlagen worden, als Paul und ich noch ganz klein waren. Er war Schmied, ein riesengroßer Mann und so breite Schultern«, er zeigte die Breite mit den Händen. »Habe ich eigentlich schon von Paul erzählt?« Sieker schüttelte stumm den Kopf.

      »Paul ist jünger als ich und äh, ungewöhnlich. Aber er ist sehr lieb und nett. Tante Hannah auch.«

      »Was heißt ungewöhnlich?«, hakte Sieker nach. Scheinbar erfrischte ihn die Pause. Er atmete jetzt wieder gleichmäßiger, hustete nicht mehr ständig, den zehnminütigen Weg zum Kotten würde er vermutlich schaffen. Matthis fragte sich lieber nicht, wie er ihn heute Abend zurückschaffen würde. Er legte einen Finger an den Mund, holte tief Luft, schüttelte dann den Kopf und sprudelte los: »Der Pastor sagt, das heißt mon-go-lo-id. Paul braucht viel mehr Zeit, etwas zu lernen, und er -« Matthis zuckte mit den Schultern »Ich weiß nicht. Er ist so, wie ein wirklich kleiner Junge. Und er hat alle Menschen gern!« Sieker schaute ernst und blickte Matthis aufmerksam an.

      »Warum erzählst du mir das erst jetzt? Ich meine, warum hast du, hat auch sonst niemand mir schon vorher von Paul erzählt?«

      Wieder zuckte der Junge mit den Schultern, schaute verlegen zu Boden und murmelte: »Wir sprechen nicht über Paul. Vater nicht und wir Kinder auch nicht. Die Leute sagen …«.

      »Die Leute?« Sieker war aufgestanden und hatte seinen Stock, den er als Wanderstock benutzte, wieder aufgenommen. »Was sagen die Leute?« Er betonte die letzten beiden Worte so, als wäre es ein Schimpfwort. Paul lief langsam hinter ihm her.

      »Dass er ein Idiot ist, ein Wechselbalg, ein Monstrum. Aber das stimmt nicht! Der Pastor hat streng verboten, so über Paul zu reden, und keiner tut es, wenn er es hören könnte, oder wenn von uns einer dabei ist, aber die Kinder in der Schule, also nicht alle, aber manche …« Matthis brach ab, weil Sieker ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, und sah den Mann an.

      »Du magst deinen Vetter, nicht?«

      »Ja, ich mag ihn«, bekam er fast trotzig zur Antwort.

      »Die Leute!-«, wieder klang es, als spucke Sieker diese Worte aus, »die Leute haben keine Ahnung. Alles, was nicht nach Regel und Maß geht, das verabscheuen sie, weil sie es fürchten. Ihr habt es mir nicht erzählt, weil ihr Angst hattet, ich würde ihn auch verabscheuen, oder?«

      »Vater war der Meinung, sie würden sich vielleicht von Tante Hannah nicht helfen lassen, weil sie ein, äh, weil sie eben ein Kind wie Paul hat.«

      »Aber er hat mich doch hierher geschickt?«

      »Nein, eigentlich war das meine Mutter. Hannah ist ihre Schwester.«

      »Weißt du, was das beste ist