Anders Sein. Natascha Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natascha Neumann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754959770
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einen Teil der Strecke mit der Bahn fahren zu können, aber nach dem Tag heute brauche ich wohl noch etwas Zeit. Vielleicht ein, zwei Wochen?«

      »Um das zu sagen, müsste ich Sie erst ausgiebig befragen. Ich weiß ja so gut wie nichts. Matthis sagte, Sie hätten Schmerzen in der Rippengegend? Waren die gebrochen?« Punkt für Punkt ging Hannah mit ihm die Fragen durch, die ihr Antwort auf die Frage gaben, was ihm fehlte. Anna hatte ihn zwar wiederhergestellt, seine Wunden ausgezeichnet versorgt und seine Brüche geschient, aber der hartnäckige Husten, die Atemnot, der Ohnmachtsanfall, das alles schien auf ein grundlegenderes Problem hinzuweisen. »Diese Kurzatmigkeit – hatten Sie die schon vor dem Überfall?«

      Er schaute zu Boden, setzte zu einem schnellen »Nein« an, schüttelte den Kopf und sagte dann »Nur einmal.« Das Bild von seinem krampfenden Kind schob sich vor sein inneres Auge, er hatte Mühe, die Wut und die Ohnmachtsgefühle beiseitezuschieben. Hannah sah, dass ihn etwas beschäftigte, aber sie drang nicht in ihn. Sie hatte eine alte Zeitung geholt und zu einer Art Tüte zusammengerollt. Kaum sah sie, dass er seine Gefühle wieder im Griff hatte, bat sie ihn, seine Arme einmal über den Kopf zu heben. »Ich möchte ihr Herz abhören, wie es schlägt«, erklärte sie. »Ich glaube nämlich, das ist es, was Ihnen jetzt Probleme bereitet. Wie alt sind Sie?«

      »Ich bin -«,

      »Ah, die Hannah hat Herrenbesuch! Hast du deine Missgeburt so lange in den Stall gesperrt, bis du hier deinen Spaß gehabt hast, hä? Vor aller Welt Augen? Schamlos warst du ja schon immer!« Eine alte, dürre Frau mit schlecht sitzender Kleidung blieb auf dem Weg, der am Haus vorbeiführte, stehen und spie die Worte nur so heraus. Sie hatte einen großen Weidenkorb in der einen Hand und einen Stock, mit dem sie jetzt wild gestikulierte, in der anderen.

      »War ja klar, dass du die Finger nicht von den Kerlen lässt!« Wieder fuchtelte sie mit dem Stock herum, setzte gar den Korb ab, um die Hände in die Seiten zu stemmen. Sie hatte eine unangenehm schnarrende Stimme, was die gemeinen Worte noch betonte. Hannah wurde blass, sagte aber nichts und versuchte, der Alten keine Beachtung zu schenken, Sieker hingegen stand auf und schritt, sich hoch aufrichtend, auf die Frau zu. Er lächelte freundlich und streckte die Hand aus. Seine Stimme dröhnte laut, aber scheinbar sanft: »Guten Tag. Ich bin Jakob Sieker, mit wem habe ich die Ehre?« Das garstige Weib gab keine Antwort. Sieker trat einen weiteren Schritt auf sie zu, als hinter ihm wildes Geschrei ertönte. Die Jungen hatten ihr Spiel im Stall beendet und kamen unbändig brüllend angelaufen. Die Alte erstarrte vor Schreck, raffte dann rasch ihren Rock zusammen und versuchte, wegzulaufen. Dabei stolperte sie und fiel direkt in die geöffneten Arme von Paul.

      »Hoppla!«, rief der in seiner unnachahmlichen Art und drückte sie liebevoll an sich. Jetzt war es um die Fassung der Frau vollends geschehen. Sie riss sich los, raffte die Röcke und rannte, so schnell es ging. Matthis und Paul lachten aus vollem Hals, Sieker und Hannah brachen in schallendes Gelächter aus.

      Als der Tag zu Ende ging, wurde Sieker klar, dass der liebe Gott es gut mit ihm meinte. Ja, Joni hatte einen Anfall gehabt, ja, er, Jakob Sieker war überfallen worden, aber er hatte wunderbare Menschen kennengelernt. Der junge Matthis war so eifrig, so hilfsbereit, ganz anders als sein Ziehsohn Hannes, den er vor Jahren aufgenommen hatte. Hannes war oft mürrisch und seine Aufgaben in Haus und Werkstatt erledigte er lustlos. Statt dankbar zu sein, betonte er immer wieder, dass er fortgehen würde, sobald wie möglich. Während seiner Lehrzeit, die heute schon fünf Jahre zurücklag, hatte Hannes sich wenig Mühe gegeben. Dieser Junge hier, der würde sein letztes Hemd geben für eine Lehre bei ihm.

      Außerdem war da diese Frau. So winzig war sie, und doch erschien sie vor seinem geistigen Auge riesengroß und drängte alles andere aus seinen Gedanken. Wie fachmännisch sie ihn untersucht hatte, wie leicht ihre Berührungen waren. Ihr Lachen schien ihm das Schönste zu sein, das er je gesehen hatte. Gut, sie hatten einen Idioten als Sohn, aber der war ja allerliebst, wie ein arg tapsiger, unbeholfener Bär. An ihm erkannte Sieker, dass diese Hannah zu echter Hingabe fähig war.

      Er seufzte, nahm sich vor, sie bald wieder zu besuchen, drehte sich um und schlief ein.

       10.

      Drei Wochen später ergab sich für Jakob Sieker die Gelegenheit, mit einem fahrenden Händler zurück in seine Heimatstadt zu fahren. Es war reiner Zufall, dass dieser so früh im Jahr hier unterwegs war, und er würde im Übrigen mindestens zwei Tage brauchen, aber Sieker brauchte nicht laufen und konnte sich so weiter schonen. Er hätte außerdem Gesellschaft, falls es er kränkeln würde oder Hilfe benötigte. Der gutmütige Händler kam schon seit Jahren auf den Hof, sodass er bekannt war, und es freute ihn, behilflich zu sein. So wurde ausgemacht, am nächsten Tag die Reise anzutreten.

      Matthis war enttäuscht und traurig. Sieker hatte Abwechslung in sein Leben gebracht, erst dadurch, dass er bei der Pflege helfen durfte, dann durch das gemeinsame Tischlern und nicht zuletzt hatten sie sich befreundet. Der Tag bei Tante Hannah hatte ihm Freude bereitet, die Begegnung mit der alten Klara, die Sieker so souverän gemeistert und Paul so grandios aufgelöst hatte – das alles war lustig gewesen. Matthis hatte sich wohlgefühlt mit ihm, und umgekehrt, so schien es, war das auch so. Mittlerweile war diese Zeit vorbei, Matthis würde wieder seinen langweiligen, ungeliebten Alltag leben. Vier weitere Wochen Schule, dann die feierliche Entlassung, am Sonntag darauf die Konfirmation und danach? Arbeit, Schweine, Dreck. Keine Stunden mehr beim Pastor, der ihn wenigstens verstand und immer aufregende Begebenheiten zu erzählen wusste, keine sonnigen Nachmittage mehr am Schmiedebach mit Walter. Die anderen Jungs hätten dann keine Zeit mehr, schon im letzten Schuljahr war das faule Herumlungern kaum möglich gewesen, sie alle wurden häufiger auf ihren Höfen in die Arbeit einbezogen.

      »So war es immer, darum dreht sich alles!«, sagte der Vater gern, und grundlegend gab der Junge ihm recht. Hier auf dem Hof, war alles, wie es sein muss: es wurde gepflanzt, geerntet und bevorratet, es wurden Kälber und Ferkel geboren, großgezogen und zu Fleisch verarbeitet, es wurden Kinder geboren, die groß wurden und das Land bebauten.

      Am Firstbalken des Hofes stand es ja zu lesen, das waren die ersten Worte, die er lesen konnte: »Müh‘ und Arbeit sind umsunst, so du nicht hast auch Gottes Gunst - Karl Meyer zu Ollerdissen, Anno Domini 1598.«

      Eine wahrhaft uralte Tradition, die hier in gepflegt wurde, seit der Großvater seines Großvaters es gebaut hatte. Matthis war das alles bewusst und das Seltsame war, er liebte es. Dieses Verwurzeltsein, diese Zugehörigkeit zu etwas Altem, Beständigem, das gab ihm Sicherheit, seit er denken konnte. Der Hof, das Haus, die uralten Ulmen rundherum, die Kirche aus grauer Vorzeit, die Nachbarn, die er schon ein Leben lang kannte. Die Väter seiner Schulkameraden waren mit seinem Vater zur Schule gegangen. Nur eben Walter nicht, sein bester Freund. Der Lehrer war ‚neu’ im Dorf, wohnte erst seit zwölf Jahren hier, für die Alteingesessenen fast ein Fremder. Matthis und Walter waren von Schulbeginn an Freunde, denn in Walter hatte er jemanden, der eine andere Welt jenseits des Dorfes kannte und davon erzählen konnte. Die vielen Bücher, die Briefe des Missionars, das alles war so reizvoll. Matthis liebte eben das Fremde genauso, das Andere. Aber mit diesen Träumen war jetzt endgültig Schluss. Die Episode mit Sieker war so etwas wie ein Abschied aus der Welt ‚da draußen‘, er musste seine Träume begraben. Er wollte nicht Knecht sein, nicht auf dem Hof arbeiten – aber was er stattdessen wünschte, das wusste er nicht. »Ich bin jetzt so gut wie erwachsen, also muss ich endlich der Tradition folgen!«, dachte er etwas hochfliegend.

      »Eine so günstige Gelegenheit, danke, dass Sie mir das ermöglicht haben. Überhaupt: Danke für alles, das kann ich nie wieder gut machen!« Sieker stand in der guten Stube vor Karl und Martha. Karl winkte ab.

      »Das war selbstverständlich. Wir freuen uns, dass es Ihnen wieder so gut geht.«

      »Ja, dafür würde ich mich gern auch bei Ihrer Schwiegertochter und bei Matthis bedanken, aber vorher wollte ich noch etwas mit Ihnen besprechen, wenn Sie Zeit haben?«

      Es war längst dunkel, die Tiere versorgt, das Abendbrot gegessen. Übermorgen in aller Frühe würde Sieker aufbrechen.

      »Setzen Sie sich! Natürlich haben wir Zeit für Sie!« Karl stand auf, zog seinem Gast den Sessel ans Feuer, holte ein Kästchen aus dem Schrank hervor, stellte es dann wieder fort