Fjodor Dostojewski: Hauptwerke. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754189153
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sie selbst gewünscht, daß du mitkommen möchtest?«

      »Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoschin, den Mund zum Lächeln verziehend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«

      »Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.

      »Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle mit dem Rasiermesser? Hehe!«

      »Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.

      »Wer weiß; vielleicht auch nicht!« sagte Rogoschin leise, wie wenn er nur mit sich selbst spräche.

      Der Fürst antwortete nicht.

      »Nun leb wohl!« sagte Rogoschin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«

      »Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.

      »Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoschin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

      I

      Es war ungefähr eine Woche seit dem Tag vergangen, an welchem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

      Es gibt Leute, von denen man schwer etwas derartiges sagen kann, daß sie dadurch mit einemmal und vollständig uns in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen gestellt würden; das sind diejenigen, die man meist als »Leute gewöhnlicher Art«, als »die Masse« bezeichnet, und die tatsächlich in allen Gesellschaftskreisen die weit überwiegende Majorität bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und eigenartig und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolesin in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus nicht eine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolesin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolesin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden. Sie haben auch vor Gogol gewußt, daß diese ihre Freunde Leute von Podkolesins Art waren, haben aber nur noch nicht gewußt, daß sie gerade so hießen. In der Wirklichkeit sind Bräutigame, die vor der Hochzeit aus dem Fenster springen, äußerst selten, weil das, von andern Gründen abgesehen, gar zu unbequem ist; aber trotzdem: Wieviele Bräutigame, sogar achtbare, verständige Männer, haben nicht vor der Trauung in der Tiefe ihrer Seele die Empfindung gehabt, daß sie Podkolesins seien! Ebenso rufen ja auch nicht alle Männer bei jedem Schritt: »Tu l'as voulu, George Dandin!« Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

      Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist, und daß alle diese George Dandins und Podkolesins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den Leuten von ganz gewöhnlicher Art anfangen, und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist untunlich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch an den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht, oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr Leben lang unveränderte Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt.

      Zu dieser Klasse der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit und Bestimmtheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte Herr Ptizyn und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch.

      In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein, »wie alle Menschen«. Reichtum ist ja vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist ja hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solcher Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen, wie alle Menschen, in zwei Hauptklassen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen gibt es zum Beispiel nichts Leichteres als sich einzubilden, er sei ein ungewöhnlicher, origineller Mensch, und davon ohne Bedenken das Gefühl eines hohen Genusses zu haben. Einige unserer jungen Damen brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene »Überzeugungen« gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfindet wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung ist. Mancher braucht nur einen Gedanken von einem andern auf Treu und Glauben anzunehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß durchzulesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow. Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich gar keine diesbezügliche Frage vorlegt, wie denn Zweifelsfragen für ihn überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Genugtuung für das verletzte moralische Gefühl des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung einen Blätterkuchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme auseinander und verließ seine Leser