Im letzten Brief endlich hieß es:
»Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich geflissentlich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost für mich; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, das mir selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß bei mir die Möglichkeit ausgeschlossen ist, ein Anfall von Stolz könnte mich veranlassen, mich selbst herabzusetzen. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls unfähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich.
Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinet willen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen; darin finde ich meine ganze Absolution; das habe ich mir längst gesagt ... Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt umdrehen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen; ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was an meiner Statt in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich beständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer); aber ich kenne ihr Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Haus gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit über, während ich bei ihnen in ihrem Haus wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit Schdanowscher Flüssigkeit umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer; aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden; so habe ich es mit ihm bestimmt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten ... Aber er wird mich vorher töten ... Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.«
Und dergleichen irres Gerede stand noch vieles, vieles in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats.
Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle Nacht, in der man alles erkennen konnte, schien ihm noch heller als gewöhnlich. »Ob es denn noch so früh ist?« dachte er. (Er hatte vergessen seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; »wahrscheinlich beim Bahnhof«, dachte er wieder. »Sie werden heute gewiß nicht dort sein.« Während er das überlegte, sah er, daß er gerade dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es ordentlich vorhergewußt, daß er unbedingt schließlich hierher geraten werde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen; die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. »Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen«, dachte er flüchtig; aber auch der Saal war leer; in ihm war es fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemanden dort zu treffen.
»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.
»Ich ... bin nur so hergekommen ...«
»Mama ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida ist dabei, sich schlafen zu legen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«
»Ich wollte ... ich wollte Ihnen jetzt ... einen Besuch machen ...«
»Wissen Sie, was die Uhr ist?«
»N-nein ...«
»Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«
»Ach, ich dachte ..., es wäre halb zehn.«
»Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«
»Ich dachte ...«, stotterte er und ging wieder fort.
»Auf Wiedersehen! Morgen werde ich sie alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«
Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum glich gewissermaßen einem Traum. Und plötzlich stand ganz wie vor kurzem, wo er zweimal bei derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. »Nein«, sagte er sich, »das ist kein Traumbild!« So stand sie denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung Gesicht gegen Gesicht vor ihm; sie sagte etwas zu ihm; aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück; aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.
»Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie aufzuheben. »Steh schnell auf!«
»Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«
Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, wie wenn Verfolger hinter ihr her wären.
»Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht ... Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«
»Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.
Sie faßte seine beiden Hände und sog sich mit den Augen an seinem Gesicht fest.
»Lebe wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend, von ihm. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoschin neben ihr erschien, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.
»Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoschin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«
In fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf demselben Fleck erwartet.
»Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien ordentlich vorauszuwissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir neulich geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben; sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum