Ihr Herz schlug schneller. Sie versuchte ruhig zu atmen. Die Stimmen drangen wieder zu ihr vor, flüsterten ihr Dinge zu, die sie nicht verstand. Unruhig, drängend.
Das Wasser vor ihr hätte ruhig wirken können, aber für Maya war es bedrohlich.
Trotzdem bewegte sie sich darauf zu, als zöge es sie an. Innerlich stemmte sie sich dagegen, leistete Widerstand. Ohne Erfolg. Immer weiter wurde sie gezogen. Was ging hier vor? Wieso hatte sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle?
Bald berührten ihre Sneakers das Wasser. Maya spürte, wie es durch den Stoff sickerte, während sie immer weiter hineinging. Ihr Atem ging schwer, sie war noch immer panisch. Bald stand sie bis zu den Knien im Wasser.
Sie konnte nicht fassen, was hier geschah. Seit Jahren hatte sie sich nicht mal in die Nähe großer Wasserflächen gewagt und nun ging sie tiefer und tiefer in den See hinein, ohne es verhindern zu können. Ihr Gesicht glühte vor Anstrengung, ihre Fäuste waren schmerzhaft geballt, doch sie konnte sich dem Sog nicht widersetzen, der sie so fest im Griff hatte, dass es ihr wehtat. Sie wollte sich losreißen, gleichzeitig den Gefühlen entfliehen, die in ihr hochkamen und Erinnerungen mit sich brachten. Erinnerungen an ihren Vater, gegen die sie sich ebenso wehrte.
Vergeblich. Der Sog machte sie zu seiner Marionette, nahm ihr den Willen, der um sein Überleben kämpfte. Mit jedem Schritt bohrte sie die Fingernägel tiefer in die Handflächen hinein, bis sie nicht mehr konnte. Die Stimmen wurden leiser. Sie schienen zufrieden mit etwas zu sein. Maya schnappte nach Luft, ehe sie untertauchte.
Wie von selbst lösten sich ihre Fäuste. Entsetzt stellte sie fest, dass ihr Körper die Tiefe ansteuerte. Mayas Herz pochte rasend schnell, als wäre es das einzige, das sich ihr nicht widersetzte. Der Sauerstoff wurde knapp, sie musste Luft holen … Jetzt!
Ruckartig atmete sie ein … Und stellte fest, dass sie atmen konnte. Mit jedem Zug wurde ihr Herz ruhiger, ihr Kopf nebeliger. Wie in Trance glitt sie hinab, auf ein mächtiges Licht zu. Eine Stimme lullte sie ein, sagte ihr, wie sehr sie auf sie gewartet hatte. Maya kam dem Licht immer näher, wollte auf einmal so dringend zu ihm … Von Sehnsucht getrieben wollte sie die Hände nach ihm ausstrecken, doch sie gehorchten ihr noch immer nicht.
Und dann tauchte sie hindurch.
Der Nebel verschwand so schnell, wie er gekommen war. Das Wasser färbte sich dunkel, riss sie herum wie ein Spielball. Maya wollte schreien, aber es fehlte ihr plötzlich die Luft zum Atmen. So kräftig sie konnte, strampelte sie mit den Beinen und ruderte mit den Armen. Atemlos durchstieß sie die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Sie schwamm hektisch auf das Ufer zu, das im Dunkeln lag. Erst als ihre Füße den warmen Sand berührten und sie tief ein- und ausatmen konnte, fiel die Anspannung von ihr ab. Erschöpft wischte sie sich die klebenden Haare aus dem Gesicht und sah sich um. Sie richtete sich wieder auf und blickte entgeistert auf das Meer, durch das sie gekommen war. Die Panik kehrte zurück, ballte sich in ihr zusammen und brachte ihren Puls auf Hochtouren. Wo zum Teufel war sie gelandet? Wo war der Wald hin und was war gerade mit ihr geschehen? Ein warnendes Ziehen machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Die salzige Luft zerrte an ihr. Mächtige Wellen richteten sich drohend auf und peitschten gegen die angrenzenden Felsen. Die Finsternis, an die sich Mayas Augen schnell gewöhnt hatten, färbte alles in ein dunkles Blau.
Sie wünschte sich zurück nach Hause. Dorthin, wo sie hingehörte. Maya atmete einmal tief durch und zwang sich dazu, einen ruhigen Gedanken zu fassen. Vielleicht träumte sie das Alles nur. Vielleicht war es gar nicht die Realität, die sie hier erfuhr. Wie sonst konnte man an einem hellen Tag in einen See steigen und bei Nacht aus einem Meer herauskommen?
Auf einmal legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter. Mayas Herz machte einen Satz. Hinter sich hörte sie ein tiefes Brummen. »Wen haben wir denn da?«
Schlagartig fuhr sie herum.
*
»Ach komm, mach der Kleinen keine Angst«, beschwerte sich jemand hinter dem Typen, den sie trotz der anbrechenden Dunkelheit als recht stämmig und kräftig vor sich stehen sah. Weg war die Ruhe. Stattdessen machte sich ein unangenehmes Prickeln in ihrem Nacken breit. Ihr Herz donnerte ihr schmerzhaft gegen die Rippen, das Ziehen in ihrem Bauch nahm zu. Ihr ganzer Körper schrie vor Angst. Wer zum Teufel sind diese Typen? Reichte es denn nicht, dass sie keine Ahnung von dem Ort hier hatte? War sie jetzt auch noch Gefahr durch Fremde ausgesetzt?
Was sie wohl mit ihr anstellen würden … Sie war nur ein kleines Mädchen. Denn so hatte er sie genannt: klein. Doch genau den Eindruck durfte sie niemals vermitteln. Keinen dahergelaufenen Fremden, wenn sie die Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen. Binnen einer Sekunde hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde ihnen nicht die Genugtuung geben und ihre Angst zeigen.
Also schnaufte Maya demonstrativ. »Ich und klein? Ich habe keine Angst. Und ihr steht mir im Weg.«
Sie machte Anstalten, an diesem Fels von Mann vorbei zu kommen, doch er hielt sie mit einer Hand zurück. Sie schielte an ihm vorbei und sah einen Jungen auf einem der größeren Steine sitzen. Er hatte die Beine ausgestreckt und kämmte sein Haar durch. Er erinnerte sie an einen Popstar, der es sich gut gehen ließ, und war ihr von Anfang an unsympathisch.
Trotzdem machte sie seine Anwesenheit nervös. Immerhin waren die Beiden zu zweit und sie allein.
Gleichzeitig kramte der andere Mann in seinen Taschen und richtete eine Lampe auf sie. »Zuerst müssen wir wissen, wer du bist.«
Ruckartig kniff Maya die Augen zusammen und legte so viel Wut in ihre Stimme, wie sie konnte. »Was spielt das für eine Rolle? Und halt gefälligst dieses Licht nicht in meine Augen!«
Tatsächlich gab der stämmige Mann nach. Nun wurde ihr Hals angestrahlt, aber ihr Gesicht konnte er bestimmt noch gut erkennen. Sie biss sich auf die Unterlippe, wie immer, wenn sie nervös war.
»Beantworte einfach die Frage. Nicht jeder läuft einfach aus dem Wasser heraus und wir haben dich auch nicht hineinlaufen sehen. Also, wer bist du?«
Das konnte nicht gut sein. Gar nicht gut. Sie wusste ja noch nicht mal selbst, wie sie hier her gekommen war … Und jetzt von zwielichtigen Typen ausgehorcht zu werden, die ihre Schritte überwachten, machte es nicht besser. Bestimmt träumte sie, hoffentlich träumte sie nur …
»Ich bin Maya. Und nun lasst mich durch, ich äh ...« Sie schaute hinunter zu ihren Schuhen, die sie in der Hand hielt. Wo sollte sie jetzt hin? »... muss nach Hause.«
Mit einem Mal rammte sie ihrem Gegenüber den Ellbogen in den Bauch und spurtete los. Der Bauch war nicht ganz so muskulös gewesen, wie sie vermutet hatte. Vielleicht hatte sie eine Chance und war schneller als dieser große Typ.
Hinter ihr knirschte der Sand und sie wusste, dass ihr jemand auf den Fersen war. Also rannte sie schneller, kam vom Strand runter auf eine schwach beleuchtete Straße und wollte gerade um die Ecke biegen, als …
Jemand packte sie am Arm. Da sie an den starken Mann gedacht hatte, verblüffte sie nun der Anblick ihres Verfolgers.
»Hast wohl noch nie so einen gutaussehenden Typen wie mich gesehen, oder?« Seine Zähne blitzten.
Natürlich, der Junge vom Felsen. Er war einen Kopf größer als sie und sein Haar schimmerte silbern im fahlen Licht der Straßenlaternen.
Rasch wandte sie den Blick ab. »Das glaubst du doch selbst nicht. Ich fasse es nicht, dass dein Kumpel und du nachts ein einsames Mädchen verfolgen.«
Er runzelte die Stirn. Hinter ihm konnte sie ein Schnaufen vernehmen. Der andere war also wirklich nicht so gut in Form. Zwar stark, aber auch ohne Kondition. Anders als der vor ihr. Leider.
Jetzt blieb ihr nur noch eins. Sie musste in die Offensive gehen, Fragen stellen, von sich ablenken. Vielleicht wollten sie ja wirklich nichts Böses von ihr, aber dass sie sie nicht gehen ließen, machte es nicht besser …
Sie schluckte die Panik hinunter und gab sich einen Ruck. »Jetzt