Bald kam sie an dem Park an, dessen wenige Bäume nicht viel Schatten boten. Ihn und den angrenzenden Wald zu durchqueren war stets der schnellste Weg nach Hause. Anfangs gab es noch viele Besucher, aber je weiter Maya ging, desto weniger Menschen begegneten ihr.
Sie lauschte den Vögeln, die ihr ein Lied vom Frühling sangen und strich sich ständig die braunen Haare zurück, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. Einen Moment lang vernahm sie ein leises Geräusch. Es hörte sich an, als würde jemand etwas flüstern, ganz nah. Irritiert ließ Maya ihren Blick umher wandern, konnte aber niemanden entdecken, der sich in unmittelbarer Nähe befand.
Einige Meter hinter ihr lief ein hagerer Mann im grauen T-Shirt und ausgeblichener Jeans und links von ihr entdeckte sie zwei schnatternde Frauen, die ihre Einkaufstüten vor sich herschwenkten. Maya schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte sie sich das eingebildet.
Wenige Augenblicke später konnte sie das Flüstern erneut hören. Nun klang es drängender, lauter.
Maya biss die Zähne zusammen. Nein, ich bin nicht verrückt. Ich höre keine Stimmen, sagte sie sich. Sie konnte die Worte auch nicht deuten, sie schienen einer anderen Sprache zu entstammen.
Als das Flüstern aufdringlicher wurde, warf sie noch einmal einen Blick nach hinten. Der Mann lief noch immer hinter ihr her, die Frauen waren nicht mehr in Sicht. Wenn dieser Mann sie nun verfolgte ...?
Sie beschleunigte die Schritte und schaute gen Himmel. Die Bäume standen dichter, immer weniger Sonnenlicht flutete zwischen ihnen hindurch und immer mehr Schatten tanzten über den Boden.
Die Tasche schien zunehmend schwerer zu werden, dabei war außer den Stiften nur ein neuer Block für die Schule darin. Nochmals beschleunigte sie ihre Schritte, mittlerweile nicht mehr sicher, ob die Stimmen wirklich um sie herum oder nur in ihrem Kopf waren.
Die Gedanken überkreuzten sich und schwirrten in ihrem Kopf umher. Was war mit ihr los? Halluzinierte sie? Wurde sie allmählich verrückt? Wie, zum Teufel, sollte sie diese Stimmen aus ihrem Kopf bekommen? Und warum passierte das gerade jetzt?
Maya hatte gar nicht gewusst, wie laut Geflüster sein konnte. Das Schlimme war: Diese Stimmen schienen einen direkten Einfluss auf sie zu haben. Maya achtete nun nicht mehr wirklich darauf, wo sie lang ging, sie versuchte nur, zu entkommen.
Sie fing an zu rennen, die freie Hand an ihr Ohr gepresst. Es half nichts. Immer weiter rannte sie in den Wald hinein, floh vor etwas, von dem sie noch nicht einmal wusste, ob es real war.
Irgendwann war sie aus der Puste. Sie nahm die Hand herunter, legte die Tasche neben sich ab und hielt sich die Seiten. Einige Male holte sie tief Luft, und schloss die Augen, um sich besser auf ihren Atem konzentrieren zu können.
Sie öffnete die Augen. Direkt vor ihr lag ein See, ein paar Meter weiter führte eine Brücke über das Wasser. Panik schlug wie eine Welle über ihr zusammen und die eben gewonnene Ruhe verflog im Nu. Mayas Hände begannen zu zittern. Sie ballte sie zu Fäusten, um sie kontrollieren zu können. Gleichzeitig wich sie zurück, kämpfte mit ihrem Gleichgewicht.
Der See rief Erinnerungen wach. Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie war mit Justus hierhergekommen und hatte sich dann geweigert, auch nur einen weiteren Schritt auf den See zu zugehen. Sie hatte die Brücke noch nicht einmal betreten wollen. Justus hatte das nicht verstanden.
Maya spürte eine leichte Berührung an ihrem Handgelenk. Überrascht sah sie nach unten und verschränkte ihre Finger mit seinen. Justus‘ grüne Augen schauten tief in ihre blauen, als wollten sie ihre Seele ergründen.
Sie schlenderten gelassen nebeneinander her, während er sie über das kommende Wochenende ausfragte.
»Und am Samstag, da bist du also zu Hause?«
»Ja, genau«, antwortete Maya. »Keine Ahnung, was ich da mache. Aber ehrlich gesagt finde ich es mal schön, frei zu haben und entspannen zu können.«
Sie musterte seine roten Haare, die wild von seinem Kopf abstanden. Sie kannte ihn erst seit ein paar Monaten, als Justus in ihre Klasse gekommen war. Er war schüchtern gewesen, aber Maya wusste, wie es sich anfühlte, wenn man niemanden kannte. Und so hatte sie ihm den Ort gezeigt, in dem sie lebten, bis sie sich schließlich immer öfter getroffen hatten. Sicher, Justus hatte nun auch andere Freunde. Aber aus irgendeinem Grund hatte ihre Freundschaft gehalten.
»Oder um mit einem Freund etwas zu unternehmen?« Er sah sie bei der Frage nicht an, aber Maya konnte bemerkte, wie er leicht errötete.
»Ja, zum Beispiel.« Sie grinste ihn an und blickte wieder gerade aus. Dann wurde ihr klar, wo sie sich befanden.
»Ist das ...?«
»Ja, der See von Loch Ness.« Er grinste über seinen eigenen Scherz, aber als Maya plötzlich stehen blieb, legte er seine Stirn in Falten. »Was ist los?«
»Ich kann nicht weitergehen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ließ seine Hand los und ballte sie in ihren Hosentaschen zu Fäusten. Ihre Stimme klang kalt, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Die Erinnerung zwängte sich in ihren Kopf und ließ sie erstarren.
»Wie, du kannst nicht weitergehen?«, fragte Justus entgeistert und vollkommen verständnislos.
»Ich kann es einfach nicht.«
»Schön, und wieso nicht?« Plötzlich war sein Tonfall harsch und fordernd geworden.
Wahrscheinlich war das auch ihm aufgefallen, denn er hängte noch ein mitfühlendes: »Maya, was ist los?« daran. Er versuchte, ihr beschützend eine Hand auf ihre Schulter zu legen, aber sie wich noch einmal zurück.
»Das Wasser«, antwortete sie schlicht und hielt den Blick starr auf die glitzernde Oberfläche gerichtet, damit Justus die Verletzlichkeit in ihren Augen nicht sehen konnte.
Ihr Freund seufzte leise und hob ratlos die Hände. »Das ... Wasser also ...«
Kurz blieb es still, dann erklang seine Stimme erneut. »Hey Maya, was ist mit diesem See? Willst du mir sagen, dass du Angst vor Wasser hast?«
Noch immer konnte sie den Blick nicht von dem Gewässer abwenden. Ihre Schultern begannen vor Anspannung zu schmerzen.
»Ja. Gewissermaßen.« Ihre Stimme zitterte.
»Aber dein Körper besteht aus mindestens achtzig Prozent aus Wasser. Vor Regen hast du doch auch keine Angst. Und trinken musst du ja auch irgendwie.«
»Das hier ist was anderes.«
»Was Anderes? Okay ... Komm, Maya, wir gehen nur über die Brücke, dann sind wir da. Das Wasser tut dir doch ni-«
Doch ehe er seinen Satz vollenden konnte, hatte sich Maya umgedreht und war in die entgegengesetzte Richtung losgerannt. »Es tut mir leid ... Ich muss hier weg.«
Sie wusste nicht, ob er sie verstanden hatte oder wie er sich fühlte, jetzt, da sie ihn einfach stehen gelassen hatte. Doch die Emotionen, die über sie hereinbrachen, schwemmten die Schuldgefühle weg. Sie musste fort. So weit weg wie nur möglich.
Und hier stand sie nun, ein paar Monate später. Wieder vor dem See, wieder voller Angst. Justus hatte ja nicht wissen können,