»Und, was hat er gesagt?« Tante Claudia strich ihren grauen Rock glatt, obwohl niemand in der Nähe war, der ihr Aussehen hätte bewundern können. »Hat er gesagt, was ich dachte? Du warst nie blind und hast schon immer gelogen?«
Das Blut schoss Alexis ins Gesicht, als heiße Wut in ihr hochkochte. Wie so oft war sie froh, dass Claudia nur ihre Tante war. Es hätte schlimmer kommen können. Sie konnte die Frau nicht ausstehen.
»Ich habe nie gelogen«, erwiderte Alexis und war erstaunt über ihre Stimme, die so ruhig und gefasst klang.
»Jaja, streite es nur ab, streite es nur ab.« Claudia knipste ihre Handtasche wieder auf und zu, dann strich sie sich über ihre pinkfarbene Bluse. Offenbar hatte sie vor, Alexis zu berühren, denn sie streckte eine Hand nach ihr aus, der Alexis im letzten Moment ausweichen konnte.
»Aber was ist denn jetzt herausgekommen?!« Als Alexis nicht sofort antwortete, wurde ihre Stimme hysterisch. »Sag es mir, oder ich werde gleich höchstpersönlich den verehrten Doktor aufsuchen, der sowieso schon so viel um die Ohren hat und ich wette, er wird nicht sehr begeistert von einem ungehorsamen Gör sein, das sein ganzes Leben lang vor sich hin lügt, um Aufmerksamkeit …«
»Es ist nichts dabei herausgekommen! Es ist einfach so, wie es ist, okay?« Wütend schlug Alexis den Weg zum Ausgang ein, um diese Frau nicht mehr sehen zu müssen. »Er hat keine Erklärung dafür und ich habe auch keine. Und statt sich wie ein normaler Mensch darüber zu freuen, dass ich nun sehen kann, wirfst du mir vor, schon immer gesehen zu haben?! Tolle Familie, echt.«
Mit einem heftigen Ruck stieß sie die Tür auf, ging ein paar schnelle Schritte und besann sich dann darauf, ruhig zu atmen. Wie Claudia sie immer in Rage bringen konnte … Doch warum regte sie sich eigentlich auf? Sie freute sich doch nicht einmal selbst darüber, dass ihre Augen funktionierten, dass sie nun das konnte, was jeder Mensch als Selbstverständlichkeit ansah. Sie besaß etwas weitaus Besseres.
Denn obwohl sie nie etwas hatte sehen können, ja, sogar die Blindenschrift anzuwenden vermochte, war ihr nie in den Sinn gekommen, von der Sehkraft zu träumen. Sie fühlte die Dinge um sich herum. Sie wusste, dass sich vor ihr eine Rose befand, noch ehe sie sie gerochen hatte. Sie konnte die Energien von Menschen und Tieren unterscheiden. Sie wusste, wann jemand log, obwohl sie keine Möglichkeit hatte, seine Körpersprache zu lesen. Und sie hatte sich immer zurechtgefunden, die ganzen letzten Jahre ihres Lebens, und nie hatte sie es bereut, anders zu sein als andere Menschen. Sie empfand sich nicht als besonders. Sie war einfach nur anders.
Irgendwann hatte Claudia sie keuchend eingeholt. Ihre Tante strich sich durch ihre zerzausten Haare, die sich normalerweise in einem sorgfältig gemachten Dutt befanden. Heute war jedoch offenbar keine Zeit gewesen für das gewöhnliche Schickmachen am Morgen. Sobald Claudia erfahren hatte, dass Alexis sehen konnte, war sie zu dem Haus gegenüber gerannt, in dem Alexis mit ihrer Mutter wohnte. Ganz durch den Wind war sie angekommen, die Handtasche hatte schief über dem Arm gebaumelt und die Augen hatte sie weit aufgerissen. Alexis würde diesen Anblick nicht mehr so leicht vergessen.
Nun schlug sie den Nachhauseweg ein und hörte die klackernden Schritte von Claudia hinter sich. Vermutlich war Alexis´ Kopf knallrot, jedenfalls sammelte sich eine ganze Menge Hitze darin.
Nach zehn ewig dauernden Minuten waren sie angekommen. Das Haus lag einladend vor ihnen und lächelte sie mit seinen roten Blumen, die auf den Fensterbänken verteilt waren, an. Ihre Mutter wartete schon auf sie und nahm Claudia in Beschlag, die ihr mit hoher Stimme verkündete, was Alexis ihr entgegengeschleudert hatte.
Alexis durchquerte den Flur, als plötzlich etwas in ihrem Augenwinkel aufblitzte und ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie drehte sich in die Richtung, aus der die Bewegung gekommen war und zuckte zurück. Ein fremdes Gesicht starrte ihr entgegen. Ihr Herz setzte aus, nur um dann in einem beängstigend raschen Tempo loszuschlagen. Da bemerkte sie, dass das Gesicht in Glas eingeschlossen schien.
Große Augen funkelten ihr fasziniert entgegen. Das linke war blau, das rechte grün. Etwas an ihnen kam ihr vertraut vor. Nicht ihr Aussehen, nein. Das, was sich hinter ihnen verbarg. Sie sah in die Augen eines Mädchens … und erkannte ihre eigene Seele, die sich darin spiegelte. Das hier musste sie selbst sein. Ihr Körper. Probeweise kniff sie ein Auge zusammen. Das Mädchen im Glas tat es ihr gleich.
Erstaunt schnappte sie nach Luft und ließ ihren Blick hastig weiter zu den Punkten gleiten, die ihre Nase und teilweise auch ihre Wangen zierten. Sommersprossen. Diesen Begriff hatte sie einst aufgeschnappt. Ungeduldig musterte sie den Rest ihres Gesichts.
Ihre Lippen waren seltsam, die eine schien dicker zu sein als die andere. Doch das störte sie nicht, im Gegenteil. Ein warmes Gefühl der Freude stieg in ihrem Bauch empor und breitete sich bis in die Fingerspitzen aus. War das wirklich ihr Abbild, das sie hier sah?
Da fiel ihr das schwarze Haar auf. Alexis nickte nachdenklich. Natürlich wusste sie, welche Farbe ihre Haare hatten, ihre Mutter erinnerte sie alle paar Wochen daran. Und auch, wenn Alexis vorher nie sehen konnte: Farben hatten ihre eigene Schwingung und diese hatte sie sofort wiedererkannt, als ihre Augen das erste Mal die leuchtenden Flächen wahrgenommen hatten. Dabei löste die Farbe Schwarz ein tiefes, aber beständiges Vibrieren aus.
Sie neigte den Kopf leicht nach vorne, um ihren Mittelscheitel besser betrachten zu können. Es zeigte sich schon der erste weiße Ansatz, der an ihren Haarwurzeln begann und sich dann ein paar Millimeter lang erstreckte.
Alexis runzelte die Stirn und eine kleine Falte zeigte sich zwischen ihren Augenbrauen.
Zwar konnte sie die Energien von anderen Menschen erkennen, doch nie war sie in der Lage gewesen, sich selbst betrachten zu können. Sie hatte nie gewusst, wie sie wirklich aussah und dass ihre Nase länger und gerader war, als sie vermutet hatte. Und ihre Haare, die eigentlich schneeweiß waren, wirkten irgendwie schwach, leblos, als würde ihnen die schwarze Farbe die Kraft rauben. Nur zu schade, dass ihre Mutter sie immer wieder färbte. Sie sagte ihr immer, dass Weiß eine ungewöhnliche Haarfarbe sei, die nur alte Menschen trugen. Die Leute würden tuscheln, irgendwelche Gerüchte verbreiten und das würde Alexis nur schaden. Also ließ Alexis die Tortur jedes Mal über sich ergehen. Sie wusste, dass ihre Mutter es nur gut meinte.
Und doch. Weiße Haare waren außergewöhnlich. Und außergewöhnlich passte zu ihr.
Kapitel 1
Maya
Die Sonne prallte auf die Menschen nieder und ließ die Gebäude große Schatten werfen. Abgase stiegen auf und sorgten für eine stickige Luft. Kein Wunder, heute war viel Verkehr. Die Menschen zog es an diesem Samstagmorgen in die Stadt wie Bienen zum Honig, und die Frauen sorgten mit den schillernden Farben ihrer Röcke und Kleider für eine willkommene Abwechslung in dem sonst so grauen Alltagsleben.
Mayas Haare wurden kräftig nach hinten gewirbelt, als sie über den Zebrastreifen lief. Sicher, im Zentrum der Stadt wehte in der Deckung der vielen Kaufhäuser nur ein zartes Lüftchen, aber hier, wo sich nur wenige Häuser und mehr Bäume fanden, blies der Wind schon etwas stärker.
Maya machte sich gerade auf den Weg nach Hause, die braune Ledertasche hatte sie über ihren rechten Arm gehängt.
Der Autofahrer, der vor dem Zebrastreifen gehalten hatte, hupte wie wild. Ein Mann, vielleicht Anfang vierzig, steckte den Kopf aus seinem schwarzen Lamborghini und schrie ihr etwas entgegen, das sich nicht besonders freundlich anhörte. Zum Glück konnte sie ihn nicht verstehen, er schien eine andere Sprache zu sprechen.
Stattdessen schrie Maya zurück: »Ich geh' ja schon, nur Geduld!«, und marschierte schneller über den Zebrastreifen, um dem Mann mit der Halbglatze eine schnelle Weiterfahrt zu gewähren.
Ein Glück, dass sie ihren kleinen Bruder nicht mitgenommen hatte. Mit ihm in der Stadt hätte sie an jedem Spielzeugladen Halt machen müssen. Leo war nicht nur unglaublich nervig, er besaß auch eine große Ausdauer, wenn es ums Einkaufen ging.
Aber