Lydia kämpfte wieder mit den Tränen. »Zum Wohle unserer Tochter würde ich ihn nicht verlassen. Ich liebe Tom. Lea braucht einen Vater.«
Rebecca rückte näher an ihre Freundin heran und protestierte energisch: »Lydia, nein! Das kannst du dir nicht ernsthaft auferlegen wollen! Deine Tochter braucht einen Vater, der ehrlich mit dir ist und keinen, der ein Doppelleben führt. Du kannst doch nicht den Rest deiner Tage unglücklich sein wollen!«
Gequält presste sie hervor: »Und was wird aus dem Leben, das wir uns aufgebaut haben? Was wird aus dem Haus? Wir bezahlen es beide ab, und das noch auf viele Jahre.« Genau wie sie und Paul!
Rebecca hatte gehofft, Lydia von ihren eigenen chaotischen Gefühlen erzählen zu können. Aber das brachte sie nicht übers Herz. Ihre naiven Emotionen kamen ihr unbedeutend und geradezu lächerlich vor gegenüber der sich anbahnenden Ehekrise ihrer Freunde.
»Lydia?« Tom stand unten im Hausflur und rief nach seiner Frau. Seine Stimme kam Rebecca mit einem Schlag viel kälter vor. Sie beschloss, Paul diskret zu befragen und ihre Freundin nicht weiter zu belasten. »Lydia? Wo seid ihr denn?«, ertönte es erneut. »Ich dachte, wir wollten noch einen Wein zusammen trinken?«
»Gleich!«, rief Lydia zurück.
Sie wischte sich mit dem weiten Pulloverärmel die Tränen aus dem Gesicht. »Ich sehe verheult aus, richtig?« Rebecca nickte. »Geh runter und sage Tom, dass die Kleine nicht einschlafen will. Ich komme nach, sobald ich mich beruhigt habe.« Rebecca nahm Lydia fest in den Arm und drückte sie an ihre Brust, bevor sie nach unten ging.
Tom stand noch immer am Treppenaufgang. »Wo ist Lydia?«, fragte er beinah herrisch, als Rebecca das Hausflur erreichte.
»Die Kleine schläft nicht ein. Lydia muss noch ein Schlaflied singen.«
Er setzte ein skeptisches Gesicht auf. »Komisch, warum hat Lea nicht geweint? Wenn sie nicht einschlafen kann, weint sie in der Regel.« Er erwartete eine Antwort.
»Sie … war bereits eingeschlafen … und nun ist sie aufgewacht … als du gerufen hast.«
Verwundert zog Tom den Kopf nach hinten und sagte langsam: »Verstehe.« Dann begleitete er Rebecca ins Wohnzimmer, wo Paul lässig auf der grauen Couch saß.
Inzwischen waren die Männer zum Wein übergegangen. Tom setzte sich leger neben seinen Freund, während Rebecca etwas abseits von Paul Platz nahm. Sie beobachtete die beiden beim Reden, während sie selbst an einem Glas Weißwein nippte.
Tom und Paul waren beide Anfang Vierzig. Lydias Mann war etwas schlanker als ihr Freund, dafür hatte Paul mehr Haare auf dem Kopf. Bei Tom konnte sie erste graumelierte Strähnen erkennen. Zusammen mit seinem Dreitagebart ging er als ganz ansehnlicher Mann durch, der sicherlich gut bei jüngeren Damen ankam. Im Anzug, den er für gewöhnlich auf Arbeit tragen musste, machte er bestimmt keine schlechte Figur.
Welche Liebschaften er aber vor Lydia hatte, wusste Rebecca nicht. Ob er einer Affäre mit seiner Sekretärin offen gegenüberstehen würde?
»Ach so, Paul. Und dann hat Denise noch gesagt, dass sie uns gern mal besuchen würde. Sie möchte unbedingt meine Tochter kennenlernen. Sie liebt Kinder.« Paul nickte.
Mit welch einer Leidenschaft Tom von seiner Sekretärin sprach! In Anwesenheit seiner Ehefrau hätte er garantiert nicht so inbrünstig von ihr geschwärmt.
Nach einer Viertelstunde erschien Lydia. Sie setzte sich wortlos neben Rebecca und schaute nach unten auf den Teppich. Nach wenigen Minuten sagte sie: »Ich gehe das Geschirr aufräumen«, und verschwand in der Küche.
»Geht es deiner Frau nicht gut?«, fragte Paul, der ja nicht ahnen konnte, was für ein Drama sich im oberen Stockwerk abgespielt hatte.
»Ach was. Ist halt alles stressig mit der Kleinen.« Rebecca aber dachte sich ihren Teil.
Es war weit nach 21 Uhr, als Rebecca und Paul das Haus von Tom und Lydia verließen. Paul war angetrunken, weshalb Rebecca fuhr. Sie beschäftigte noch immer, was ihr ihre Freundin anvertraut hatte. »Sag mal, was hat dir Tom eigentlich über Denise erzählt?«
Nachdem Paul Alkohol getrunken hatte, war er deutlich gesprächiger als sonst. »Nichts weiter. Nur, dass sie irgendwann vorbeikommen will, um seine Tochter zu sehen.«
»Ja, das weiß ich, da war ich dabei«, sagte Rebecca gereizt. »Aber ihr habt doch schon vorher über sie gesprochen, als Lydia und ich oben waren.« Paul überlegte kurz.
»Nicht viel. Sie ist seine neue Sekretärin. Er hat ein wenig über ihr Privatleben erzählt. Wieso fragst du?«
»Du hast sie doch bestimmt schon gesehen, oder? Sieht sie gut aus?«
Wieder zögerte Paul kurz. »Schlecht sieht sie nicht aus. Um die Zwanzig, ziemlich durchtrainiert und mit langen blonden Haaren.«
Rebecca hörte den anerkennenden Unterton in der Stimme ihres Freundes mitschwingen. »Meinst du, Tom steht auf sie?« Paul gab keine Antwort.
Da es zu finster war, konnte Rebecca auch keine Reaktion in seinem Gesicht erkennen. Die Pause dauerte ihr zu lange. »Hat dir Tom irgendwas gesagt? Findet er sie gut, wie versteht er sich mit ihr?« Wieder blieb Paul ihr die Antwort schuldig.
Rebecca atmete schwer aus.
»Worauf willst du denn hinaus, Beccy?«, platzte es aus ihm heraus.
Sie lachte auf. Als ob er das nicht wüsste! »Traust du Tom zu, dass er Lydia betrügt?«
»Tom soll fremdgehen? Das glaube ich nicht«, sagte Paul schnell. Rebecca hörte trotzdem einen seltsamen Unterton in seiner Stimme. »Ich meine … Tom ist ein Mann … Er hat mir erzählt, dass er Denise … Aber er würde Lydia doch nicht … Nein, ich meine …«
Offenbar wusste Paul mehr, als er Rebecca gegenüber eingestehen wollte. Er beendete das Thema, indem er einfach die angefangenen Satzbrocken nicht mehr fortsetzte. Er schwieg, bis sie zu Hause ankamen.
Kapitel 4
Der einzige Lichtblick für Rebecca, nach diesem von schlechtem Sex und Ehekrisen überschatteten Wochenende, bestand darin, Lou wiederzusehen.