Während Rebecca noch gebannt der Diskussion folgte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Gruppe, in der Lou arbeitete, gezogen. »Du spinnst doch!«, rief Kevin laut aus, sodass sich auch andere Schüler nach der Dreiergruppe um Elouan, Kevin und Marie umdrehten.
»Was gibt es bei euch für ein Problem?«, fragte Rebecca, als sie sich dem Tisch zuwandte. Hochrot erklärte Kevin: »Frau Peters. Klage will, dass seine persönlichen Probleme in die Rede eingebaut werden. Wir finden aber, dass die dort nichts zu suchen haben.« Und an Lou gewandt: »Kein Schwein interessiert sich für deine pubertären Phasen, du Psycho!«
Erschrocken über die Äußerungen des Teenagers, wies Rebecca Kevin zurecht. Lou aber schien vollkommen gefasst zu sein. »Keine Sorge, Frau Peters. Ich bin gewohnt, dass ich wegen meiner Vergangenheit ausgegrenzt werde.«
Die Mitglieder der anderen Gruppen wandten sich nach Kevins lautstarken Worten wieder ihrer eigenen Arbeit zu. Manche schüttelten den Kopf. Verurteilten sie Kevins Worte oder Lous Verhalten?
Die restliche Unterrichtsstunde verlief friedlich. Tatsächlich hatten Kevin, Elouan und Marie die persönlichen Belange aus der Rede ausgeschlossen. Da Rebecca jedoch merkte, wie angespannt Lou und Kevin nach wie vor nebeneinander standen, als Marie die Rede vortrug, suchte sie am Ende der Doppelstunde das Gespräch mit den beiden Streithähnen.
»Bevor ihr geht«, sagte Rebecca an die Lerngruppe gewandt, »möchte ich kurz allein mit Kevin und Lou sprechen, um die Situation von eben noch einmal aufzugreifen.«
Während die Mehrzahl der Schüler das Zimmer plaudernd verließ, schlurfte Kevin gelangweilt nach vorn. Lou hatte sich bereits vorn am Tisch eingefunden und sagte: »Frau Peters, da gibt es nichts mehr zu klären. Es war mein Fehler. Meine Phasen in der Nervenklinik gehören hier nicht her.«
Rebecca nickte, dann wandte sie sich Kevin zu: »Ich muss zugeben, dass mich deine Worte sehr geschockt haben. Eine Entschuldigung sollte zumindest drin sein.«
Verkniffen brachte der Jugendliche ein leises »Entschuldigung« heraus, ohne wirklich ernst gemeinte Gefühle dabei zu empfinden. Im Grunde war es albern, dass sich Rebecca mit zwei erwachsenen oder fast erwachsenen Jugendlichen über eine solche Lappalie unterhielt. Daher schickte sie beide nach draußen. Aber nur einer ging: Kevin.
»Warum verbringst du deine Pause nicht bei den anderen?«, fragte Rebecca, als Lou am Lehrertisch verharrte.
»Ich gehöre nicht dazu«, sagte er darauf.
»Was meinst du damit?«
»Sie sehen doch, was los ist. Alle wissen über meine Vergangenheit Bescheid. Keiner will sich mit mir abgeben. Es könnte ja sein, dass sie nachher nicht mehr beliebt genug sind.«
Er schaute auf den Gang hinaus, erschien abwesend. Dann sah er wieder zu Rebecca, die jetzt selbst dringend Pause brauchte. »Bei Ihnen fühle ich mich wohl, Sie nehmen mich ernst und hören mir zu«, sagte er mit gedämpfter Stimme, ein Stückchen näher an sie herantretend. Wie er sie ansah … Seine blauen Pupillen schienen Halt zu suchen und vergruben sich daher tiefer in Rebeccas dunklen Augen. Lou tippte nervös mit den Fingerkuppen auf den Tisch.
Rebecca konnte sich kaum von seinen hellen Iriden lösen, die unablässig auf ihr lagen. Sie hätte zugeben wollen, dass auch sie sich in der Gegenwart ihres Schülers geborgen fühlte. Stattdessen sagte sie: »Du solltest deine Probleme mit deiner Tutorin besprechen. Ich kann dir nicht helfen, wenn du ausgegrenzt wirst. Das muss im Kurs besprochen werden.« Lou wusste, dass sie recht damit hatte.
Dienstag, den 16. März
Lieber Paul,
kannst du dich daran erinnern, wann wir das letzte Mal ein wirklich ernstes, tief reichendes Gespräch miteinander geführt haben? Nein? Ich auch nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber mir fällt kein Datum ein. Ich weiß nur, dass ich heute eine wirklich gute Unterhaltung mit meinem Schüler Lou geführt habe. Wir sprachen darüber, warum er sich ausgegrenzt fühlt. Das Problem liegt in seiner Vergangenheit. Die Mitschüler lehnen es ab, sich mit einem psychisch kranken Jungen abzugeben. Ich kann sie verstehen … Noch besser aber kann ich Lou verstehen …
Ich würde auch gern mit dir ernsthafte Unterhaltungen führen, aber das bringt nichts. Du blockst sie ab, bevor ich wirklich in die Tiefe dringen kann oder ziehst sie dermaßen ins Lächerliche, dass ich mir wie ein Vollidiot vorkomme. Warum machst du das, Paul?
Fragst du dich nicht auch, worin das Problem unseres Zusammenlebens besteht? Wieso machst du dir nicht über Kinder oder Heirat Gedanken? Warum blendest du aus, mit mir über meine Wünsche und Sehnsüchte zu sprechen? Welchen Sinn siehst du in unserer Beziehung? Bedarfst du einfach nicht solcher weitergehenden Fragen oder machst du es dir so leicht, dass dir ein dermaßen oberflächliches Zusammensein genügt? In dieser Illusion will ich nicht leben, Paul. Ich weiß ja nicht einmal, ob du mich wirklich liebst oder ob du nur aus Routine mit mir zusammen bist.
Du bist mein Freund. Wieso finde ich nicht den Mut, dir das alles zu SAGEN? Weißt du, dass das größte Problem unserer Beziehung darin besteht, dass wir nicht miteinander REDEN (können)?! SPRICH, Paul. Was stellst du dir unter unserer Zukunft vor? Kinder in unserem Haus? Einen gemeinsamen Familiennamen? Ich habe so einfache Bedürfnisse. Aber du versagst mir deine Liebe. SPRICH, Paul. Denn ich kann nicht SPRECHEN.
Deine Rebecca
Sie war über ihre eigenen, klaren Worte dermaßen schockiert, dass sie den Brief sofort wegschloss. Gleichzeitig setzte ein heftiges Schluchzen ein, als sie erkannte, wie sehr die vielen Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, umsonst gewesen sein sollten. Rebecca fragte sich, wofür sie kämpfen wollte und ob sich dieser Kampf noch lohnte.
Sie fragte sich, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Heirat? Erfolg im Beruf? Ein Haus? Kinder? Eine harmonische Beziehung? Eine gemeinsame Zukunft mit Paul?
Diese ganzen Illusionen, denen sie sich all die Jahre hingegeben hatte – sie erkannte nun, je mehr sie sich ihrem Schüler annäherte, wie abwegig die Wünsche waren und fragte sich, was ihr all diese Träume brachten, wenn sie dafür mit einem Mann zusammenlebte, dem ihre Gefühle egal waren und mit dem sie nicht über ihre Sorgen sprechen konnte. Sogar ihre sexuellen Begierden litten unter der Kommunikationslosigkeit der Beziehung. Eine Zukunft ohne Selbstentfaltung und ohne Glück? Was wäre das für eine Zukunft!