„Du siehst das also genau wie ich. Das könnte der Anfang einer Mordserie sein.“
„Der Beginn eines Rachefeldzuges, ja.“ Lenis Brust hob und senkte sich vor Aufregung. „Wenn wir nichts unternehmen, wird man uns eine weitere Leiche präsentieren. Wir müssen es verhindern.“
„Obwohl es jeder Einzelne verdient hätte“, sagte Gehweiler leise und folgte Leni zu ihrem Wagen.
Bevor sie die Autotür öffnete, drehte sie sich zu Gehweiler um. „Wie auch immer. Wir machen unseren Job, auch wenn es uns manchmal schwerfällt. Was diesen Fall angeht, müssen wir verhindern, dass es weitere Opfer geben wird.“
Kapitel 10
Overbeck hatte sich verspätet. Vor dem Leichenschauhaus erwartete er die letzte Freundin Dellmanns, Jeanette Köhler. Er hatte sie ausfindig gemacht und dazu überreden können, die Leiche zu identifizieren. Die Suche nach ihr hatte sich als schwerer erwiesen als erwartet. Letztendlich hatten ihm Nachbarn des Toten den entscheidenden Tipp gegeben.
Nun stand sie da und obwohl Overbeck nur mit ihr telefoniert hatte, wusste er gleich, wen er vor sich hatte. Sein erster Gedanke war: Eine Nutte. Sein Blick glitt über die roten gelockten Haare über dem blassen, schmalen Makeup-lädierten Gesicht mit den wulstigen rotgeschminkten Lippen, über die weit ausgeschnittene Bluse über den vollen Brüsten bis hin zur engen Jeans und den unpassend roten Stöckelschuhen dazu.
Als sie ihn kommen sah, zertrat sie ihre halb gerauchte Zigarette mit der Spitze ihres Schuhs und sah ihm entgegen.
„Liegt er da drin?“ Die emotionslose Frage traf ihn überraschend und ehe er antworten konnte, sprudelten weitere Worte zwischen ihren offensichtlich aufgeblasenen Lippen -Overbeck tippte auf Botox- hervor.
„Wer erstattet mir meine Kosten. Ich musste immerhin den Bus nehmen und eine Strecke von über 20 Kilometern zurücklegen. Ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen. Es gibt doch sicher Zeugengeld dafür? Gibt es doch, oder nicht?“
Overbeck hatte sich wieder gefangen. „Eher Letzteres.“
Die Frau verstummte und überlegte. Offensichtlich verstand sie nicht, was Overbeck meinte. Ihr Intellekt ließ eine Erkennung des Sinnes der gesprochenen Worte nicht zu.
„Was, Letzteres?“, fragte sie mit aufgerissenen Augen.
„Oder nicht. Sie sagten es gerade selbst. Es gibt kein Zeugengeld.“
„Und warum nicht?“
„Weil es keine Zeugenaussage ist. Sie sollen nur die Identität des Toten feststellen. Sie kannten Dellmann doch, oder.“
„Ja, ja, ich kannte ihn. Aber nur kurz. Die meiste Zeit hat er im Knast gesessen. Und wenn er dann mal draußen war, musste ich ihn durchschleppen. Sogar heute muss ich selbst für meine Kosten aufkommen. Was ist das nur für ein Staat?“
„Kommen Sie?“ Overbeck hatte keine Lust, noch weiter mit der Frau zu diskutieren. Der Obduzent wartete und insgeheim hoffte Overbeck, dass er noch nicht mit seiner Arbeit begonnen hatte. Es würde die Identifizierung durch die Frau nur erschweren.
„Warten Sie hier“, sagte er zu der Frau, als sie an der Tür zum Sektionsraum angekommen waren.
Als er den Raum betrat, war ein älterer schlanker Herr mit weißem Schnäuzer und ebensolchen Haaren, gerade dabei, eine männliche Leiche auf einem der Seziertische zu untersuchen. Der Obduzent, den Overbeck als solchen ansah, war in einen grünen Kittel gehüllt und ein Mundschutz hing überflüssigerweise unter seinem Kinn.
Mit dem Rücken zu ihm gewandt stand in gebeugter Haltung eine weitere Person, ebenfalls in grünem Kittel. Die graumelierten leicht gewellten Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Der Mann sortierte offensichtlich irgendwelche Behältnisse.
Beide schwiegen, während sie arbeiteten.
Hinter Overbeck fiel die schwere Tür ins Schloss.
„Herr Spürmann“, sagte der Weißbehaarte ohne aufzusehen und ein leiser Vorwurf klang in seiner Stimme mit. „Sie sind spät an. Bin ich von Ihnen gar nicht gewohnt.“
Der Mann, der mit dem Rücken zu Overbeck stand, drehte sich um und lächelte triumphierend. Das rechte Auge war geschlossen. Overbeck dachte an Leni und an das, was sie bezüglich dieses Mannes gesagt hatte. Beim Anblick Overbecks gefror sein Lächeln.
„Mein Name ist Overbeck“, sagte Overbeck irritiert.
Der Mann in Weiß hob den Kopf, hielt in seiner Arbeit inne und sah über eine schmale Lesebrille, die er auf der Nasenspitze trug.
„Overbeck? Wo ist Spürmann?“
„Ich bin sein Nachfolger“, antwortete Overbeck, der immer noch in der Nähe der Tür stand, mit krauser Stirn. „Ich ermittle im Fall Dellmann.“
„Was ist mit Spürmann?“ Der Obduzent streifte seine Handschuhe ab und kam auf Overbeck zu.
„Entschuldigen Sie, es ist nur so, dass ich nichts von einem Nachfolger weiß. Ich wusste ja nicht, dass Spürmann nicht mehr bei der Mordkommission ist. Mein Name ist übrigens Schneider, Theodor Schneider. Ich bin der Professor, der die Toten aufschneidet. Und der da“ -er deutete zu der anderen männlichen Person mit dem hängenden Augenlid- „das ist mein fleißiger Helfer Wladimir Kornsack.“
Kornsack nickte kurz herüber und Schneider reichte Overbeck die Hand, die dieser zögerlich nahm und den Händedruck erwiderte.
„Keine Sorge, meine Hände sind sauber“, sagte Schneider. Sie …“
Overbeck unterbrach ihn. „Draußen steht die Ex-Verlobte des Toten, oder seine Ex-Freundin oder was weiß ich. Sie muss die Leiche identifizieren.“
„Dann bringen Sie die Dame doch herein. Es ist ja noch früh genug“, grinste Schneider und entledigte sich seiner Gummihandschuhe, die er achtlos in einen mit einer Plastiktüte ausgeschlagenen Behälter warf. „Aber machen Sie schnell. Mir läuft die Zeit bereits davon.“
„Ist das Jörg Dellmann?“ Overbeck betrachtete erwartungsvoll das Gesicht der Frau, deren Namen Jeanette Köhler war. Jetzt, im grellen Schein der Neonröhren, schien ihr Gesicht förmlich zu zerbröseln, so intensiv zeigten sich die Falten ihres Lebens, die sie mit einer rötlichen Substanz zugespachtelt hatte.
Sie klappte ihr kleines rotes Handtäschchen auf und entnahm ihm ein weißes Taschentuch, das sie sich vor Mund und Nase hielt. Overbeck wusste nicht, ob es wegen eventuell austretender Tränen war oder wegen des Geruchs, der sich langsam zu intensivieren begann.
„Und?“, hakte Overbeck nach.
„Ja, er ist es. Kann ich jetzt gehen?“
„Sagen Sie mir den Namen des Mannes.“
„Den kennen Sie doch.“ Die Frau sah ihn an, als habe er nach der Lösung von zwei plus zwei gefragt.
„Ob ich ihn kenne, spielt keine Rolle“, sagte Overbeck ungehalten. „Und Sie?“
„Ja, es ist Dellmann, Jörg Dellmann. Der Ohrring dort am linken Ohr. Er hat ihn von mir als Geschenk erhalten. Das Gesicht … das Gesicht ist ja hin. Wie ist das geschehen?“
Overbeck sah die Frau schweigend an und in diesem Schweigen las sie eine Portion Ungeduld.
„Ja, ich kann sagen, dass es Dellmann ist. War es das?“
„Gut, dann wären wir fertig. Sie müssen noch ein Formular unterschreiben.“
„Sie ermitteln also im Fall des gesichtslosen Mannes?“, sagte Schneider, als die Frau gegangen war. „Sie schien nicht in großer Trauer?“ Er bewegte den Kopf in die Richtung, in welche die Frau gegangen war.
Overbeck nickte. „Sie wird ihn nicht vermissen.“
Schneider wechselte das Thema. „Es ist gut, dass