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Mit offenen Armen empfängt Jessica Sam am frühen Abend. Sie hält sie fest und hofft ihr somit etwas Kraft geben zu können.
»Alles ok?«, flüstert sie in Sam hinein, die als Antwort darauf nur nickt.
»Ich bin ziemlich im Arsch, aber es geht schon … irgendwie.«
»Dann kannst du dich ja mit Laura zusammentun«, grinst Jessica hinterlistig, nimmt Sam von sich weg und schaut sie zuversichtlich an. Eine Kopfbewegung ins Haus folgt.
»Dann geh mal das Wrack suchen und heitere sie etwas auf.« Gerade als Jessica an Sam vorbei will um die Kids zu begrüßen, hält Sam sie fest. Hinterlistig grinst sie.
»Sag bloß, dir ist es nicht gelungen deine Frau wieder auf die richtige Bahn zu lenken?« Jessica blickt zu ihr zurück. Geheimnisvoll zieht sie die Augenbrauen hoch.
»Doch, meine Methoden haben schon fast utopische Ausmaße angenommen, aber es fehlt noch der letzte Feinschliff der besten Freundin«, zwinkert Jessica und holt Jean aus ihrem Kindersitz, während Precious auf der anderen Seite aus dem Wagen steigt.
Mit einem letzten Blick zurück zu ihren Kids und Jessica, betritt Sam das Haus und schaut sich suchend um. Draußen auf der Veranda kann sie ihre Freundin dann ausmachen. Sie bleibt kurz stehen, als sie durch den Qualm erkennen kann, dass Laura scheinbar wieder mit dem rauchen angefangen hat. Enttäuscht schüttelt sie den Kopf und tritt hinaus.
»Müsst ihr eigentlich immer alle mit dem rauchen anfangen, wenn etwas Schreckliches passiert ist?«, murmelt sie bockig vor sich hin. Gerade als sie an Lauras Seite treten will, dreht sich ihre Freundin zu ihr um.
»Hey«, lächelt sie mit gespielter Stärke. Sam schaut zu ihr hinüber und erschrickt. Entgeistert – schon fast geschockt starrt Sam ihre beste Freundin an, die im Gesicht aussieht, als wenn sie tausend Bienen gestochen hätten und ihr Gesicht daraufhin so dermaßen aufgequollen ist, dass der nächste Stich dieses zum platzen bringen würde. Laura grinst und zieht die Schultern hoch.
»So sehe ich nun mal aus, wenn ich Stunden nichts anderes getan habe, als zu heulen. Was meinst du wie ich damals ausgesehen habe, als du und Neve gestorben seid? Mich hat man gar nicht wiedererkannt.« Sam starrt ihre Freundin noch immer an und wird sich einer Sache bewusst. Die beiden kennen sich seit über dreißig Jahren und Sam hat Laura noch nie so richtig heulen gesehen. Bisher waren es immer nur kleine Tränchen, oder ein Anflug von weinen, aber noch nie hat Laura so voller Gefühl geweint wie Sam das selbst schon oft genug an den Tag gelegt hat.
»Wie geht’s dir?«, flüstert sie verwirrt. Laura zieht an der Zigarette und schiebt danach die Schultern hoch.
»Neve liegt im Krankenhaus und kämpft um ihr Leben und wir leben hier unser eigenes Leben weiter. Wie soll es mir da schon gehen?« Sie schmeißt die Zigarette zu Boden und tritt sie aus.
»Allmählich kapiere ich endlich weshalb Neve nach Hunters Point abgehauen ist. Das alles hier«, angestrengt holt Laura tief Luft »wollte sie nicht. Mich macht das kaputt. Ich kann langsam nicht mehr.« Nervös und mit zitternden Händen zündet sich Laura eine neue Zigarette an. Sam denkt im ersten Moment daran, ihr diese aus der Hand zu nehmen, spürt aber, dass sie tatsächlich selbst eine Zigarette vertragen könnte.
»Jessica fährt alles auf was sie bieten kann, um mich bei Verstand zu halten, aber dieser driftet Tag für Tag mehr und mehr ab. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie sie das alles aushält - wo sie die Kraft für all das hernimmt. Sie muss eine enorme Energie haben, wofür ich sie vergöttre.« Irgendwie benommen schaut Laura in das Haus zurück.
»Wenn ich schon so abdrehe wenn Neve mit dem Tod ringt, wie flippe ich dann aus, wenn mich meine Frau alleine lässt?« Mit Tränen in den Augen und dieser Frage ausgestattet, schaut Laura ihre langjährige Freundin an.
»Im Augenblick gehen mir so unfassbar viele und auch teilweise kranke Fragen und Gedanken durch den Kopf.« Verzweifelt schüttelt Laura den Kopf und blickt in den Garten hinaus.
»Welche?«, flüstert Sam vorsichtig. Laura lacht schnippisch.
»Ob es schlau war, eine Frau zu lieben die so viel älter ist als ich und die definitiv vor mir gehen wird. Ob es richtig war, eine Familie zu gründen. Ob ich nicht einfach meinen alten Lebensstil beibehalten hätte können. Warum ich überhaupt diese Gefühle Jessica gegenüber zugelassen habe. Weshalb ich mich für sie entschieden habe. Weshalb ich nicht einfach diese Rotzgöre von damals hätte bleiben können, die jede Frau genommen hat, die ihr über den Weg lief und sie danach über den Jordan geschickt hat. Manchmal glaube ich, dass es der größte Fehler meines Lebens war, Gefühle zu zulassen und Jessica zu lieben. Wenn ich alleine geblieben wäre, dann würde ich mir all diese Fragen gar nicht stellen und ich würde noch heute durch die Straßen streifen. Alleine, ja, aber zu mindestens nicht mit diesem Schmerz im Herzen.« Sam spürt den Kloß der sich in Lauras Hals bildet, weil sich dessen heimtückischer Zwilling im selben Moment in ihrem eigenen Hals ausbreitet. Tapfer schluckt sie.
»All diese Fragen und Gedanken kenne ich nur zu gut«, krächzt sie angestrengt.
»Mir geht es nicht anders, Laura. Manchmal gibt es Momente, wo ich mich für meine Gefühle Neve gegenüber selbst töten könnte … .«
»Das Thema hatten wir schon«, unterbricht Laura sie lachend. Sam stockt.
»Du weißt wie ich das meine«, nuschelt sie. Laura nickt schwach.
»Man zweifelt an sich selbst und seinem Verstand. Alles steht Kopf und nichts scheint logisch zu sein. Und dann …«, Sam blickt kurz nach hinten »passiert das.« Vorsichtig tritt Jessica von hinten an Laura heran. Richtig zaghaft schlingt sie ihre Arme um Lauras Hüfte und hält sie fest. Schüchtern vergräbt sie ihr Gesicht in den blonden Haaren ihrer Frau, riecht und gibt ihr einen Kuss. Sam kann sehen, wie sich Lauras Augen von alleine schließen. Ein Lächeln bildet sich auf ihren Lippen. Sie beginnt loszulassen und sich fallen zu lassen.
»Es ist wie es ist, Laura. Keine von uns kann sich dagegen wehren. Unsere Liebe Neve und Jessica gegenüber ist alles was uns aufrecht erhält. Was uns Kraft und Zuversicht gibt. Was uns stark macht und für uns den Sinn des Lebens ergibt. Wir wären nichts ohne Neve und Jessica – zwei verlorene Seelen, mehr nicht.« Laura seufzt. Sie weiß, dass Sam Recht hat. Das hat sie immer … meistens … manchmal.
»Neve wird das packen, oder?«, fragt sie zurückhaltend. Sam nickt zuversichtlich, obwohl sie sich nach vergangener Nacht gar nicht mal mehr so sicher ist.
»Natürlich wird sie es schaffen, sie ist ein zäher Brocken.« Auch wenn sie die Worte selbst nicht glaubt, muss sie wenigstens so tun als ob, um Laura wieder auf die Beine zu bekommen. Die blickt kurz zu ihrer Frau nach hinten, dann wieder zu Sam. Schnell schaut sie zwischen den beiden Frauen hin und her.
»Lust auf einen Dreier?«, grinst sie frech. Jessica beginnt zu lachen, drückt ihrer Frau noch einen Kuss auf den Kopf und schaut zu Sam hinüber.
»Ich sagte doch, dass nur noch der letzte Schliff der besten Freundin fehlt«, zwinkert sie und lässt die beiden Freundinnen alleine stehen.
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Beim Abendessen muss Sam schwer schlucken. Sie sieht, wie Precious ganz langsam an den Esstisch herantritt. Ihre Augen verweilen unsicher auf dem Stuhl der an diesem Abend leer bleiben wird. Der Stuhl, auf dem sonst ihre Mutter sitzt.
Sam kann leichte Panik in Precious' Augen erkennen. Sie schweifen wild hin und her.
»Schatz«, flüstert Sam vorsichtig, nur um Precious nicht zu erschrecken. Verunsichert schaut die Maus zu Sam hinüber, die eine Hand zu ihr ausstreckt.
»Komm her und setz dich zu mir«, lächelt sie zuversichtlich. Sie weiß, dass sie Precious im Augenblick nicht alleine lassen kann. Das wäre zu schmerzhaft für sie.