Sündenlohn. Andre Rober. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andre Rober
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062830
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ab­zuschätzen waren! Sarah ent­schied, erst einmal abzu­warten, ob sich ihre Mutter nicht auf einer verbalen Ebene an sie wenden würde und die Diskussion wie unter Er­wachsenen weitergeführt werden konnte. Doch als nach einigen Minu­ten herzerweichendem Schluchzen vermehrt Tränen in die Augen ihrer Mutter traten, wusste Sarah, was nun kommen würde. Das Thema, das Waldburg Hansen sicher gleich anschneiden würde, war das Einzige, mit dem auch sie zu­tiefst getroffen werden konnte! Und so sehr sie sich ge­wünscht hatte, es am heutigen Abend nicht mit in die Dis­kus­sion einzubeziehen, war sie sich sicher, dass sich ihre Mutter genau dort hinein­steigerte, um mit emotionaler Authentizität ihren letz­ten Trumpf ausspielen zu können.

      »Kind«, flüsterte Waldburg Hansen kaum hörbar mit geschlos­senen Augen. »Dass du mich nun auch verlässt! Kannst du über­haupt nachempfinden, wie eine Mutter sich fühlt, die ein Kind, ihre geliebte Tochter, verloren hat? Wenn ihr eigen Fleisch und Blut das Leben hingeben muss­te, und sie keine Möglichkeit hatte, dies zu verhindern?«

      Sarah verdrehte die Augen und seufzte ebenfalls, doch sie er­widerte nichts und ließ ihre Mutter weiterreden.

      »Das ist der größte, ja der größte Schmerz,« - sie riss ihre Augen weit auf und fixierte Sarah - »den eine Mutter ertra­gen muss. Die härteste Prüfung, die dir im Leben auf­erlegt werden kann.«

      Sie schloss die Augen wieder und lehnte sich zurück. Sarah war jetzt auch aufgewühlt, jedoch schaffte sie es immer noch, das Ereignis, auf das ihre Mutter anspielte, rational zu be­werten.

      »Und wenn dein Vater nicht auf Geschäftsreise gewesen wäre, und ich nicht diese entsetzliche Migräne gehabt hätte, dann wäre deine Schwester heute noch am Leben.« Die Worte kamen zwar in einem Tonfall von Bedauern über die Lippen ihrer Mutter, doch Sarah wusste um die theatra­lische Begabung ihrer Mutter nur zu gut. Folglich fiel es ihr schwer, an sich zu halten. Die Art, wie sich ihre Mutter die Welt um sich zurechtlegte, widerte sie an. Seit jenem Tag versuchte Waldburg Hansen, die Verantwortung, die sie am Tod von Sarahs Schwester Lena hatte, von sich zu schieben. Der Hinweis auf die Abwesenheit ihres Mannes stand dabei zwar nicht im Vordergrund, wurde aber jedes Mal ange­bracht, wenn dieser schreckliche Tag zur Sprache kam. Maßgeblicher – und in Sarahs Augen um etliches verwerf­licher – war, dass man die Unfähigkeit, Lena zu helfen, die beim Spielen in den Pool gefallen war, keineswegs durch eine schwere Migräne begründen konnte. Auch wenn es Sarah damals nicht bewusst gewesen war – schließlich war sie erst fünf Jahre alt – da sie sich heute noch an kleinste De­tails an jenem Tage erinnern konnte, hatte sie sich später zusam­men­reimen können, dass ihre Mutter damals sturzbe­trunken auf der Chaiselongue im Salon gelegen hatte. Die Zeit, die Sarah damals benötigt hatte, um ihre Mutter an den Pool zu bekom­men, waren möglicherweise die ent­schei­den­den Mi­nuten gewe­sen, die ihrer siebenjährigen Schwester das Leben gekostet hatten. Migräne! Sarah drehte es auch heute noch den Magen um, als ihre Mutter zum wiederholten Mal auf diese Art und Weise versuchte zu entschuldigen, was damals geschehen war. Doch sie hielt sich zurück. Bei einer einzigen Gelegenheit hatte Sarah geglaubt, ihre Mutter mit der Wahrheit konfron­tieren zu müssen. Dass jener Abend mit einem Anruf beim Notarzt und einer aufreibenden Nacht in der Klinik geendet hatte, war ihr immer noch als fast traumatisches Erlebnis in Erinnerung. Und eines hatte sich in ihren Gefühlen gegen­über den Lügen ihrer Mutter ohnehin grundlegend geän­dert: Was lange Zeit Trauer und vor allem Wut bei ihr aus­gelöst hatte, machte heute einem anderen, sehr starken Gefühl Platz: Ver­achtung! Ja, sie ver­achtete ihre Mutter! Für die Lügen, für das, was sie ihr in der Kind­heit angetan hat­te, für die Verletzungen, die sie durch ihre Mut­ter bis zum heutigen Tag erfahren hatte. Und so sehr sie die Erinner­ungen an ihre Schwester im Moment auch schmerzten, spür­te Sarah, dass nun etwas zum Abschluss gekommen war. Und die Freude über die Tatsache, dass sie in we­nigen Wochen einen entscheiden­den Schritt aus dem Leben ihrer Mutter hin­austreten würde, ließ sie sogar ein wenig lächeln.

      Es machte ihm nichts aus, durch die Dunkelheit zu laufen. Die Dunkelheit war sein Freund. Wenn er an die schönsten Momen­te in seinem Leben zurückdachte, war es stets dunkel gewesen. Nicht die absolute Dunkelheit, die einen schnell die Orientier­ung verlieren ließ, die einen Schwindel hervorbrachte, in dem man schnell panisch um sich schlug. Nicht um ein Möbelstück, eine Wand oder eine Tür zu er­tas­ten, die einem seine Position verriet. Sondern um sich schlug, um irgendetwas zu ertasten. Irgendetwas, das einem versicherte, dass da tatsächlich um einen herum etwas existierte. Das einem versicherte, dass die Welt, die normal­erweise zu sehen man gewöhnt war, einen noch immer umgab. Das einem versicherte, dass man sich nicht in einer schwarzen Realität befand, die körperlos war, unendlich in Raum und Zeit. Nein, es war die Dunkelheit, in der er sich, wenn sich die Augen den Gegebenheiten angepasst hatten, sehr gut bewegen konnte, sehr gut beobachten, sich zu verstecken vermochte. Die Dunkel­heit, die ihm Sicherheit gab, weil sie sein Freund war, aber jedem anderen Feind. Die er liebte, weil sie ihn bevorzugte. Weil ihn die Erfah­rung gelehrt hatte, dass es allen anderen mit ihr unwohl war, sie ihm aber Schutz und Geborgenheit bot.

      Orientierung war für ihn kein Problem, und selbst wenn sich die schmalen Feldwege, die sich schier endlos durch die ebene Landschaft zogen, kreuzten, musste er nicht lange überlegen, welchem davon er folgen sollte. Und so bewegte er sich so zügig vorwärts, wie es manch einer selbst am Tage nicht schaffen würde. Die Stunden, die er von der End­halte­stelle aus unterwegs war, hatte er mit Gedanken ausgefüllt. Gedanken unter­schied­lichster Art. Viele betrafen Erinnerungen, die we­nig­sten die Gegenwart, die meisten die nahe Zukunft. Er wus­ste nun, wo sie den Bus verließ und welche Richtung sie danach einschlug. Er konnte schon morgen… nein! Er verwarf den Gedanken. Erstens würde er noch einige Zeit in die genaue Planung investieren müssen. Zweitens konnte er, da er seit ges­tern wusste, wie er sie auffinden konnte, die Momente, in de­nen er in ihr Leben trat, auch genießen. Die Momente, in de­nen er sie beobachten konnte, ohne dass sie dies auch nur er­ahnte. Ihre Gestik, ihre Bewegungen, ihren zarten Körper, das hüb­sche Gesicht. In denen er ihr so nahe war, dass er ihre Stimme hören und den Duft ihrer Haare riechen konnte. Er würde ihr also die nächsten Tage aus zwei Gründen folgen, wobei das Studieren ihrer Gewohnheiten wie immer zu Anfang lediglich zweit­rangig war. Er erinnerte sich an das erste Mal. Damals war es ihm überhaupt nicht darum ge­gan­gen, heraus­zufinden, in wel­cher Situation er sie zu sich holen konnte. Er wollte nur in ihrer Nähe sein, wie ein unsichtbarer Begleiter an ihrem Leben teil­haben, das Leben in ihr spüren. Das Leben, die Freude, die er selbst eben nicht mehr imstande war, zu em­pfinden. So ging es über ein Jahr, bis er der rein optischen und auditiven Wahr­nehmungen überdrüssig wurde und sich noch mehr Nähe, physische Nähe wünschte. Damals verging wohl ein wie­teres halbes Jahr, bis das Verlangen tatsächlich darin mün­de­te, sich mit der akribischen Planung auseinander­zuset­zen, wie er sie auf Dauer in seiner Nähe haben konnte. Mit der Zeit begann das Verlangen einer physischen Verbun­den­heit immer früher einzusetzen, nichtsdestotrotz ver­setzten ihn die Be­obacht­un­gen, das scheue, unbemerkte Annähern nach wie vor in Glücks­gefühle und waren somit wichtiger Bestandteil seines Tuns und Handelns. Bei der nächsten Weggabelung hielt er einen Mo­ment inne. Er wandte sich gen Osten und glaubte am Horizont einen leichten blauen Schimmer erkennen zu kön­nen. Bis zum Sonnenaufgang war nicht mehr viel Zeit. Selbst wenn er sich mittlerweile auch bei Tageslicht sicher und un­auffällig bewegen konnte, so war er doch froh, dass es nicht mehr weit bis zu dem Parkplatz war, wo er seinen VW-Trans­porter am Nachmittag abgestellt hatte. Nach den ver­blei­ben­den zwanzig Minuten, die er deutlich schnelleren Schrit­­tes weiterlief, war der Himmel tat­sächlich zur Hälfte in ein dunkles, fast ins Lila gehende Blau ge­taucht. Als er den Schlüssel in das Schloss der Fahrerseite steck­te, zögerte er einen Moment. Im Laderaum lag eine Matrat­ze, frisch bezogen, ver­lockend. Er hatte die nächtliche Wanderung genossen, trotzdem war er jetzt müde. Nicht erschöpft, sein

      Kör­per war trainiert und er hätte leicht die doppelte Strecke zurücklegen können, aber müde. Er zog den Schlüssel wie­der aus dem Schloss, begab sich an das fensterlose Heck des Transporters und öffnete die Tür. Er zog sie hinter sich zu, verriegelte von innen, ging auf die Knie und rollte sich auf der Matratze ein wie ein Embryo.

      Die wärmende Sonne kitzelte an der Nase