Sündenlohn. Andre Rober. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andre Rober
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062830
Скачать книгу
entgegnete Inge Westerhus zuversichtlich und an Herrmann gewandt: »Haben Sie die Fingerabdrücke schon ans LKA geschickt?«

      »Habe ich, die kommen direkt auf Sie zu, wenn sie was ha­ben.«

      »OK. Fertig mit den Fakten zur Person?«

      »Eine Sache noch: Schauen Sie mal hier.«

      Herrmann hob den rechten Arm der Toten an und deutete

      mit dem Zeigefinger auf eine unregelmäßige dunkle Verfär­bung an dessen Innenseite.

      »Das hat mit dem Tod der Frau nichts zu tun. Es handelt sich meiner Meinung nach um ein Tatoo. Leider stark in Mitleiden­schaft gezogen. Irgendeine Art Tribal, schätze ich.«

      Peters und Westerhus betrachteten die feinen Flecke aufmerk­sam.

      »Foto ist bei den Unterlagen?«, fragte die Polizistin, ohne den Blick abzuwenden.

      »Natürlich, mit Größenskala.« Herrmann fasste solche Nach­­fragen niemals als Kritik auf. Er wartete, bis die beiden Frauen sich abwandten und ließ den Arm der Toten wieder sinken.

      »So viel zur Person. Kommen wir auf die Verletzungen und die Umstände des Todes. Da habe ich sehr, sehr trau­rige Nach­richten für Sie«.

      Er schaute Inge Westerhus und Alice Peters mit gehobenen Augenbrauen an und schien auf ein Zeichen zu warten, dass sie für die nun folgenden Ausführungen bereit waren.

      »Schießen Sie los«, forderte die Ärztin ihren Kollegen auf und stützte sich mit beiden Armen auf den Edelstahltisch.

      »Die Verletzungen an Augen und Mund, sowie einige klei­nere Abschürfungen und natürlich auch die Fesselspuren sind prä­mor­tal entstanden. Lassen wir die Spuren, welche die Vögel, Kreb­se und der ein oder andere Fisch hinter­lassen haben, ein­mal außer Acht, sind es wirklich lediglich diese wenigen Ver­letzungen. Aber die, das brauche ich Ich­nen nicht zu sagen, ha­ben es leider in sich«.

      Er deutete auf den Mund der Frau.

      »Ihr wurden Mund und Augen mit einem Paketgarn zuge­näht. Da hat sie definitiv noch gelebt. Ob sie allerdings bei Bewusst­sein war, kann ich Ihnen leider nicht sagen, auch wenn Sie sich das, so wie ich, sicherlich innigst wünschen.«

      Inge Westerhus schüttelte mit vorgehaltener Hand entsetzt den Kopf, während Alice Peters sich interessiert vorbeugte, um die regelmäßigen Wunden im Mundbereich genau zu studieren.

      »Ich habe selbstverständlich Proben des Garns an das LKA-Labor geschickt, vielleicht ist der Hersteller zu ermitteln. Wie Sie beide sehen, hat der Täter mit der Nadel – ich schätze eine Teppich- oder Polsternadel größeren Kalibers – nicht durch die Lippen gestochen, sondern durch das um­gebene Fleisch. Dadurch lässt sich der Mund durch Fest­zurren gut verschlie­ßen, und das Risiko des Ausreißens eines Stiches ist nicht so groß.«

      Herrmann referierte die Fakten ohne jegliche erkennbare Emotion oder Rücksichtnahme.

      »Und jetzt kommt etwas Spannendes: Unmittelbar nach Setzen der Naht hat er flüssiges Kerzenwachs auf jeden Stich geträu­felt. Ich habe verschiedene Theorien, warum er das gemacht hat. Qual oder Folter ist natürlich möglich, jedoch von meinem Standpunkt aus nicht wahrscheinlich. Der Schmerz des Stech­chens und Durchziehens des relativ dicken Garns war, vor­aus­gesetzt die Frau war bei Bewusst­sein, so groß, dass das heiße Wachs sicher nicht noch schlimmer war. Ich würde ver­muten dass auch ein geistes­kranker Perverser in der Lage ist, das abzuschätzen.«

      »Und warum könnte er es dann getan haben?«, fragte Inge Westerhus und strich sich gedankenlos mit dem Zeigefinger um ihre Ober- und Unterlippe, so als stellte sie sich die Schmer­zen vor, die die junge Frau während der entsetz­lichen Tortur ertragen musste.

      »Entweder, er wollte die Blutung stoppen, denn gerade um den Mund herum ist das Gewebe ja besonders stark durch­blu­tet. So konnte er zumindest verhindern, dass Blut nach außen, also in ihr Gesicht floss. Nach innen haben die Wun­den na­türlich weitergeblutet. Ich habe geringe Mengen an Blut im Magen nachweisen können, die sie in den Stunden nach der Verletzung geschluckt haben muss. Nach vier, fünf Stunden dürften die Wunden dann auch im Mund­raum geschlossen gewesen sein. Der zweite Grund, den ich mir vorstellen könnte, wäre der naive Versuch, die Wunden zu desinfizieren, bezieh­ungs­weise zu versiegeln. Einen ge­ringen Effekt in diese Rich­tung dürfte das heiße Wachs si­cher gehabt haben.«

      Inge Westerhus, die immer noch ihre Lippen knetete, sagte wie zu sich selbst:

      »Das Blut, das er nicht sah, war ihm egal, aber in ihrem Gesicht wollte er es nicht haben… Das halten wir mal für das Profiling fest, ist ja vielleicht ein Puzzleteil. Entschul­digung, ich habe Sie unterbrochen?!«

      Herrmann schüttelte den Kopf.

      »Nicht doch! Kein Problem. Soll ich weitermachen?«

      »Ja, sicher!«, ermunterten ihn Alice Peters und Inge Wester­hus gleichzeitig.

      »Für Sie und Ihr Profiling ist vielleicht auch wichtig, dass der Mund erst einige Zeit nach den Augen zugenäht wurde. Im Bereich von Tagen, vielleicht einer Woche. Ich für meinen Teil finde das ziemlich bemerkenswert! Außerdem hat der Täter auch hier, vergleichbar mit seinem Vorgehen beim Mund, nicht etwa das Lid vernäht, sondern das um­liegende Gewebe. An­schließend hat er wieder die Stiche mit heißem Wachs be­träufelt. Ihre Augäpfel dürften bei der gesamten Prozedur nicht zu Schaden gekommen sein. Dass sie fehlen, schiebe ich, wie anfangs erwähnt, auf die Fress­gier der Vögel, Fische oder Kriechtiere.«

      »Aber der Mund folgte eine Woche später!«, überlegte Inge Wes­ter­hus halblaut. »Das bedeutet, dass er sie eine ganze Weile in seiner Gewalt hatte, bevor er sie getötet hat! Was für ein krankes Hirn! Hat er sonst noch etwas mit ihr gemacht? Ich meine zum Beispiel, sexuelle Handlungen vorgenommen, eine Vergewaltigung?«

      Der Rechtsmediziner schüttelte den Kopf.

      »Hierfür habe ich keinerlei Anzeichen gefunden. Die Frau war zwar keine Jungfrau mehr, aber alles deutet darauf hin, dass sie zu Lebzeiten nur einvernehmlichen und auch nicht besonders harten Geschlechtsverkehr hatte. Ich habe weder ältere noch aktuelle Vernarbungen oder Verletzungen fest­stellen können. Was ich nicht ausschließen kann, ist, dass er sich an ihr in bewusstlosem Zustand vergangen hat. Ich habe trotz der Lieg­ezeit Abstriche gemacht und lasse gezielt nach Sperma, Spermi­zid und Gleitmitteln suchen. Aber meine ehrliche Meinung? Da ist nichts passiert. Auch die Tatsache, dass sie, bis auf die Ein­wirkung des Salzwassers und den natürlichen Schmutz, einen unversehrten Slip trug, unterstützt diese These.«

      »Haben Sie daran eine Verschmutzung durch Kot oder Urin feststellen können?«, wollte Alice Peters wissen und sowohl Herr­mann als auch Westerhus war der Hintergrund der Frage sofort klar.

      »Nur im Umfang des normalen Gebrauchs von Unter­wäsche. Sie hat nicht in ihre Kleidung defäktiert. Das wollten Sie doch wissen?«

      »So ist es. Das und die Tatsache, dass sie sich mindestens eine Woche in seiner Gewalt befand, sagt uns wieder etwas über un­seren Täter: Er hat ihr den Toilettengang gestattet. Das heißt, er ver­hält sich in gewissem Maße fürsorglich sei­nem Opfer gegen­über.«

      Inge Westerhus setzte einen weiteren Punkt auf die Ge­sprächsliste mit ihrer Kollegin Sarah Hansen, die sie ja am folgenden Tag erwartete.

      »Aber nur zu einem gewissen Maß. Sie erinnern sich an meine Bemerkungen zu ihrem Allgemeinzustand? Wenn man die letzte Zeit vor ihrem Tod in Betracht zieht, würde ich sagen, sie hat, während sie in seiner Gewalt war, nichts zu essen und auch nur ein absolutes Mindestmaß an Flüs­sig­keit bekommen. Der Zustand von Magen, Nieren und Leber, sowie einige Gewebe­werte lassen diesen Schluss zu. Mal davon abgesehen, dass die Nahrungsverabreichung nach Zunähen des Mundes sowieso nur intravenös oder durch eine Magensonde möglich gewesen wäre. Aber für keine dieser beiden Möglichkeiten habe ich Anhaltspunkte gefunden.«

      Herrmann wandte sich ab, ging zu einer in der Ecke stehenden Kommode und zog eine Schublade auf.

      »Ist