Sündenlohn. Andre Rober. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andre Rober
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062830
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hatte, die Türen schloss und losfuhr, ergriff ihn blanke Angst! Er warf alle Vor­sicht über Bord und rannte aus voller Kraft hinter dem Bus her.

       Nein, das darf nicht sein!

      Doch er besann sich, wurde langsamer und blieb stehen. Er kniff die Augen zusammen und sah angestrengt dem klei­ner werdenden Bus hinterher. Linie Drei. Er atmete einige Male tief durch und lächelte. Dann drehte er sich um und kehrte gemächlichen Schrittes zur Haltestelle zurück, um den Fahr­plan genau zu studieren.

      Ungeduldig lauschte Inge Westerhus dem Tuten in der Lei­tung. Das Gespräch mit dem Dezernatsleiter der Polizei­direktion in Flensburg, wo die junge Kollegin derzeit ar­beitete, war so unerwartet positiv verlaufen, dass sie es jetzt kaum erwarten konnte, mit Sarah Hansen persönlich zu sprechen. Sie hatte sich im Vorfeld große Sorgen gemacht, ob und wie es ihr überhaupt gelingen konnte, die junge Kollegin zu dem Fall hier auf dem Lande hinzuzuziehen. Doch was ihr Peter Haberstroh mitteilte, hatte sie augen­blicklich in eine bessere Stimmung versetzt. Offensichtlich strebte Frau Hansen derzeit ziemlich hartnäckig eine Versetzung in den Süden der Republik an, und da dem Antrag höchst­wahrscheinlich relativ kurzfristig statt­gege­ben werden sollte, war es für Haberstroh leichter gewesen, Sarah Hansen von ihren Aufgaben in Flensburg freizu­stellen und sie den Ermittlungen in Husum zuzuweisen. Frau Hansens Einverständnis vorausgesetzt, man wolle ihr, da sie ihre letzten Wochen vor sich hatte, keine vermeid­baren Unannehm­lichkeiten bereiten. Also hatte Inge Wes­terhus den Rückruf brav abgewartet und nun, spät am A­bend, da sie das OK seitens der Dienststelle und Frau Han­sens Handynummer übermittelt bekommen hatte, gleich zum Hörer gegriffen.

      »Sarah Hansen?«

      Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten. Erfreut stellte Inge Westerhus fest, dass ihre Kollegin während der Jahre nichts von ihrem Elan eingebüßt hatte. Schon nach weni­gen Details, die Inge Westerhus ihr zu dem Fall nannte, war Sarah Hansen Feuer und Flamme und hatte ihr Kommen für den übernächsten Abend zugesagt. Westerhus` Ange­bot, für die Zeit der Ermittlungen bei ihr im reetgedeckten Haus im Püttenweg direkt hinter dem Deich zu wohnen, hatte sie auch dan­kend angenommen.

      Als nächstes rief Inge Westerhus ihren Mann an, um ihm und ihren beiden Kindern Marie-Claire und Lars mit­zu­teilen, dass eine junge Kollegin auf unbestimmte Zeit bei ihnen einziehen werde. Sie verband mit dieser aufrichtig als Hilfe für Sarah Hansen gedachten Aktion auch die Hoffnung, die neuen Um­stände würden dem Besuch ihrer Schwiegermutter ein vor­zeitiges Ende bescheren. Zwingend war das nicht, Zimmer gab es in dem Haus mehr als genug. Trotzdem würde eine fremde Person im intimen Umfeld möglicherweise Isolde Westerhus` Gefüge derart erschüt­tern, dass sie es vorzog, sich dem zu ent­ziehen. Und wenn sich Peters Mutter durch Frau Hansens bloße Anwesenheit oder subtile Andeutungen nicht zur Abreise be­wegen las­sen sollte, würde Inge beim ersten Abendessen das Ge­spräch auf den Fall lenken: Ihr Mann Peter wäre interessiert und engagiert dabei, und ihre Schwiegermutter war so zart besaitet, dass ihr ein Verbleib am Tisch, besser noch im Haus, unmöglich sein würde. Vorteil Inge Westerhus, dachte die passionierte Tennisspielerin verschmitzt. Sie erwog sogar, zur Not Alice Peters zu einem weiteren Abendessen einzuladen, mit ihrer ungebremsten Art ein Übriges zu ihrem perfiden Plan beisteuern würde.

      Flexible Response am Familienkriegs­schauplatz, fuhr es Inge Wes­terhus unter einem weiteren Lächeln durch den Kopf. Zum Schluss schrieb sie noch eine Mail an die IT-Abteilung, die Kollegen mögen doch bitte im Laufe des morgigen Tages auf der gegenüberliegenden Seite ihres Schreib­tisches einen der alten PCs installieren, einen Zugang zum lokalen Netz ein­richten und ein Telefon aufbauen. Die Mail schickte sie Arved Munz, Feit Müller und Bernd Hagen in Kopie, damit sie gleich morgen Vormittag zumindest formal vom Eintreffen der jungen Kollegin unterrichtet waren. Sie selbst würde ihren Arbeitstag mit Alice Peters in der Gerichts­medizin in Kiel beginnen, um sich von Professor Doktor Herrmann über die Ergebnisse der Obduktion genauestens unterrichten zu lassen. Sie blickte auf die Uhr: Viertel nach acht! Das war nicht spät genug, um ihrer Schwiegermutter nach deren allabendlichen Averna nicht mehr über den Weg zu laufen, aber zumindest würde sie ihr Abend­essen in der Gesellschaft ihres pflichtbewussten Sohnes und der ihrer beiden Enkel, so sie sich denn rechtzeitig zuhause einge­funden hatten, bereits zu sich genommen haben. Inge Wester­hus fuhr ihren PC runter, packte ihre Tasche und verließ ohne Eile das Polizeirevier.

      »Von dir hört man ja gar nichts mehr!«

      Sarah musste alle Beherrschung aufbringen, nicht gleich auf dem Absatz kehrtzumachen, sondern lächelnd ihre Mut­ter in den Arm zu nehmen und ihr rechts und links ein flüchtiges Küsschen auf die Wange zu drücken. Ein verär­gertes Ver­drehen der Augen ließ sie sich jedoch nicht neh­men, es war je­doch nur für sie selbst gedacht, achtete sie doch peinlich genau darauf, dass es Waldburg Hansen nicht mitbekam. Da sie die­sen Satz immer vor einer Begrü­ßung entgegengeschleudert bekam, egal ob sie drei Wochen auf Fortbildung gewesen war, oder sie noch am Vortag telefoniert hatten, war Sarah ziemlich abgestumpft. Auch wenn der beleidigte Tonfall über die letzten Jahre fordern­der, härter geworden war, konnte sie immer bes­ser mit dem Opferspiel ihrer Mutter umgehen. Sie hatte ver­schie­dene Strategien ausprobiert. Anfangs war sie noch in die Recht­fertigung verfallen, später hatte sie angriffslustig den Ball zurückgegeben, dann versucht, verständnisvoll auf ihre Mutter einzugehen. Mit der Zeit hatte sich ziemlich klar heraus­kristal­lisiert, dass die wirkungsvollste Maßnahme schlicht war, solch unterschwellige Angriffe komplett zu ignorieren.

      »Hallo Mama, gut siehst du aus! Du warst beim Friseur, richtig?«

      Heute war Waldburg Hansen hartnäckiger. Sie sah auf die Uhr.

      »Jetzt ist es schon nach acht, den ganzen Tag habe ich mich gefragt, wann du dich wohl melden wirst!«

      Und, um Sarah wirklich aus der Reserve zu locken, setzte sie noch „wo du doch den ganzen Tag Zeit hattest“, hinzu.

      Gerade noch konnte Sarah das: Ja, aber ich hatte furchtbar viel zu tun hinunterschlucken, das sie wieder in die Defensive ge­drängt hätte und konterte statt dessen in lockerem Ton mit einem

      „Aber jetzt bin ich ja da!“

      Innerlich war sie aber keinesfalls so selbstsicher wie es ihre unermüdlich eingeübten Antwortsätze vermuten ließen.

      »Ich habe dir einiges zu erzählen.«

      Ihre Mutter musterte sie argwöhnisch. Ihr prüfender Blick war von einer solchen Intensität, dass Sarah schon wieder drohte, in ihre alten Verhaltensmuster zu verfallen. Sie hielt dem aber stand und schaffte es sogar, das aufgesetzte Lä­cheln weiter glaubhaft zur Schau zu stellen. Allerdings merk­te sie, wie ihr innerlich schlagartig heiß wurde, eine Schweißperle im Nacken den Weg unter ihre Bluse fand und langsam den Rücken hin­unter­rann. Sie nutzte den Moment, um hinter sich zu greifen und aus dem auf dem Bo­den abgestellten Einkaufskorb den in Papier einge­schlagenen Blumenstrauß zu nehmen und ihn ihrer Mutter zu überreichen.

      »Für dich«, sagte sie nur und hatte einige Sekunden ge­wonnen, in denen ihre Mutter ihre Aufmerksamkeit auf das Gebinde richtete. Das reichte, um einmal tief durchzuatmen und sich innerlich wieder Stütze zu verschaffen.

      »Danke, aber das wäre doch nicht nötig gewesen.«

      Sarah verabscheute solche Floskeln, fehlte ihnen doch jeg­liche Wärme und Authentizität.

      »Aber Mama, natürlich bringe ich dir Blumen mit, ich weiß doch, wie sehr du Papageientulpen liebst.«

      Waldburg Hansen erwiderte nichts, sondern steuerte durch die monumentale Halle in Richtung der Küche, die einem noblen Res­taurant alle Ehre gemacht hätte. Sarah folgte ihr und fühlte sich wie immer von den schweren Teppichen, dem dunklen Mo­biliar und den hohen Decken fast erschla­gen. Die üppige Ausstattung mit Ölgemälden in barocken, goldenen Holz­rahmen, die Lüster an der Decke und die beiden brusthohen Vasen, die die Doppelflügeltür zum Wohnraum flankierten, all das drückte auf ihr Gemüt. Auch in der Küche, die von einem zentralen gusseisernen Herd mit gigantischer Abzugshaube dominiert wurde, besserte sich ihre Stimmung nicht. Auch wenn die Kochinsel seit sie denken konnte