Sündenlohn. Andre Rober. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andre Rober
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062830
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besprechen kann, murmelte sie halblaut und durchforstete ihr Gedächtnis nach einer Person, die nicht aus der Medizin oder Psychologie kam, sondern einen polizeilichen Hintergrund hatte.

      Jemand, der bei der Erstellung von Täterprofilen, geschult war. Jemand, mit dem sie ohne Rücksicht auf ihre Schwei­ge­pflicht ihre Gedanken teilen konnte. Jemand der wie sie davon ange­trieben wurde, die Wahrheit zu ergründen und den Täter auch zu verstehen. Und der nicht beim LKA ar­beitete. Ihr dämmerte etwas. Ein geradezu leidenschaft­liches Gespräch mit einer Kolle­gin kam ihr in den Sinn. Bei den letzten beiden Seminaren war sie dabei gewesen.

       Wie hieß sie noch?

      Eine junge Kollegin, noch in der Ausbildung, war tief in der Materie verankert. Obwohl auch Teilnehmerin, disku­tierte sie unglaublich gut mit den Seminarleitern und stellte ihre Ansätze nach mühevoller Gruppenarbeit auch immer coram publico vor.

       Sie war aus Kiel!

      Westerhus erinnerte sich an den vorletzten Abend: Eine kleine Gruppe hatte noch bis spät in die Nacht hinein einen auf­sehenerregenden Fall des FBI diskutiert. Ihre teils provokativen Annahmen, teils bestechend scharfsinnigen Analysen hatten schon tagsüber ihre Ausbilder beeindruckt und einige Seminar­teilnehmer desavouiert. Im Hotel hatte sich die zum Teil hitzige Diskussion fortgesetzt. Vor ihrem inneren Auge sah Westerhus die schlanke junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz und den großen blauen Au­gen, die bei so einem jungen Menschen ruhig etwas fröh­lich­er hätten dreinblicken dürfen.

       Diese hübsche junge Frau… Sabine, Susanne…Sarah!

      Es war ihr wieder eingefallen!

       Sarah Hansen!

      Sarah Hansen saß im Garten des Café Sostenuto und starr­te argwöhnisch auf ihr Handy. Eigentlich hätte sie ihre Mutter schon am Vormittag anrufen müssen. Sie hatte den heutigen Tag freigenommen, und Waldburg Hansen hatte das dummer­weise mitbekommen. Selbstverständlich, Sarah spürte die Un­ge­duld ihrer Mutter auch über die Distanz, wurde eine Kon­takt­aufnahme in irgendeiner Form von ihr erwartet. Den Vormittag über war es Sarah gelungen, das schlechte Gewissen, welches jahrzehntelange Konditio­nierung stets erfolgreich aus dem Dunkel heraufbeschwor, erfolgreich zu verdrängen. Doch jetzt, da die vielen Tele­fonate, Internetrecherchen und Formu­lare, die sie erledigt und bearbeitet hatte, keine Ablenkung mehr boten, drängte sich das ungute Gefühl wieder subtil in den Vordergrund. Sie schüttelte kurz den Kopf.

      Nein Mama, dachte sie, jetzt genieße ich erst ein Stück Kuchen und meinen Kaffee.

      Die Kellnerin, die in der Tür zu den Gasträumen erschien und leicht humpelnd ein Tablett die Stufen zum Garten her­unter­­balancierte, lenkte Sarahs Aufmerksamkeit weg vom Telefon. Auf dem Tablett befand sich, das konnte Sarah auch von hier aus erkennen, eine große Latte Macchiato. Wie schon drei Male zuvor wünschte sie sich inständig, dass es diesmal ihre sei. Erst als die Kellnerin mit ihrem of­fensichtlichen Hüftleiden zwei Tische umrundet hatte und sich zielstrebig auf dem Weg zu Sarahs Platz befand, konnte sie sich sicher sein: endlich!

      »Der Apfelkuchen kommt auch gleich. Ohne Sahne, rich­tig?« Sie bekam die Latte direkt vor sich hingestellt.

      »Nein, es war Zwetschgenkuchen und mit Sahne!«

      Auf ein Bitte verzichtete sie, da die Frage bereits mehrfach gestellt worden war, immer ohne Sahne, nur mit verschie­denen Sorten Kuchen, die das Sostenuto offensichtlich auch im Ange­bot hatte. Die Kellnerin nickte wild, deutete auf ihren Kopf und winkte im Weggehen ab. Sarah blickte ihr kurz nach, senkte dann den Kopf und sog den Duft des Kaffees ein. Mit geschlos­senen Augen atmete sie einige Male tief durch.

       Meine Zeit!

      Ganz beiläufig bekam sie eine kurze Konversation am Ne­ben­­tisch mit. Erst wenige Minuten zuvor hatte dort eine alte Dame in Begleitung einer Mittfünfzigerin Platz genommen. Dem Al­ters­unterschied und dem Umgang nach handelte es sich um Mutter und Tochter. Die etwa neunzigjährige Frau blickte inter­essiert zu Sarahs Tisch. Dann wandte sie sich an ihre Tochter und meinte.

      »Ich will meinen Kaffee auch mit zwei Strohhalmen. So wie die da drüben.«

      Mit der einen Hand zerrte die Dame ihre Tochter am Är­mel, mit der anderen zeigte sie auf Sarahs Getränk.

      »Das ist eine Latte Macchiato«, entgegnete die Angespro­chene in aller Ruhe, »und natürlich bekommst du eine, wenn du das möchtest.«

      »Nein«, insistierte die Alte. »Ich will einen Kaffee! Aber auch mit Strohhalm! Sorg bitte dafür, dass ich das be­kom­me.«

      Sarah Hansen musste schmunzeln, als sich ihre Blicke mit denen der jüngeren Frau trafen. Sie bekam noch mit, wie der Kellnerin mit Verweis auf ihre Latte so ein Kaffee wie der dort drüben in Auftrag gegeben wurde, dann widmete sie sich wie­der ihrem eigenen Glas. Doch bevor sie an dem Strohhalm nippen konnte, begann ihr Handy zu vibrieren und sich lang­sam in Richtung der Tischkante vorzuar­beiten.

      Nein Mutter, nicht jetzt dachte sie und war kurz davor, den Anruf einfach wegzudrücken. Doch die Nummer im Dis­play war nicht die ihrer Mutter, sondern kam eindeutig aus der Polizeidirektion Flensburg. Das Dezernat für Kapital­verbrechen konnte Sarah noch aus der Nummer heraus­lesen, die Durch­wahlen jedoch wurden einheitlich mit „0“ weitergegeben.

      Ihr freier Tag! Aber dann musste es wohl wichtig sein. Sie seufzte, fing das Handy geschickt neben der Tischkante auf und nahm das Gespräch entgegen.

      Als das Mädchen an der Ampel stehen blieb und sich ver­stohlen nach rechts und links umblickte, um mög­licherweise doch noch schnell bei Rot die Fahrbahn zu kreu­zen, konnte er das erste Mal ihr Gesicht sehen. Sein Atem ging schneller. Auch spürte er, wie sein Puls sich merklich beschleunigte.

      Sie war es! Sie musste es einfach sein! Sofort senkte er den Blick und drehte sich weg, hin zu dem Schaufenster, an dem er ge­rade vorbeigegangen war. Sie durfte ihn nicht sehen! Seit sie ihm wegen ihrer schlanken Beine und Arme und den kurzen braunen Haaren aufgefallen war, hatte er sie nur von hinten ge­sehen. Vor ungefähr fünfzehn Minuten war das gewesen, und von diesem Moment an war er ihr nachgegangen. Durch die komplette Fußgängerzone blieb er in ihrer Nähe und konnte den Blick nicht von ihrem Rücken lassen, von den Haaren, die mit ihrem Schritt leicht wogten, von der leicht gebräunten Haut ihrer Arme. Es war ihm leicht gefallen, mit den Touristen zu verschmelzen und ihr so unentdeckt zu folgen. Erst als sie den Innenstadt­bereich verlassen hatte und weniger Menschen zu Fuß unterwegs waren, musste er etwas mehr Abstand wahren, um nicht aufzufallen. Ohne sich ganz umzudrehen schielte er in ihre Richtung. Sie hatte sich mit einer Hand an den Ampelmast gestützt und einen Fuß auf die Zehen gestellt. Das angewin­kelte Knie bewegte sie ungeduldig hin und her. Er starrte auf das weiße T-Shirt, unter dem sich leicht ihre kleinen Brüste abzeichneten, auf die schmale Röh­renjeans, die einen eher kna­ben­haften Po erkennen ließ und etwa zwanzig Zentimeter über ihren Fesseln endete, auf die rot gepunkteten Ballerinas, die sie barfuß zu tragen schien. Noch während er ihren Körper, ihre Bewegungen studierte, begann es. Sein Kopf fing an, leicht hin- und herzuzucken, sein Kiefer begann, sich zu verkrampfen, und seine Knie drohten ihm wegzuknicken. Sofort wandte er sein Gesicht ab, kniff die Augen gewaltsam zu und widerstand dem Drang, die Arme zu heben und sich die Ohren zuzuhalten. Er atmete nun so schnell, dass es einem Hecheln gleichkam. Vor seinem inneren Auge sah er nur bunte Muster, psy­chedelische Bilder wabernder, bewegender Formen. Doch bevor er das Gleich­gewicht verlor, machte er einen ersten tiefen Atemzug. Es folgte ein zweiter. Und noch ein dritter. Nach wenigen Se­kunden hatte er sich wieder unter Kon­trolle, seine Beine stützten ihn, sein Kiefer entkrampfte, und er konnte die Augen wieder öffnen. Ängstlich sah er sich um. Niemand schien den kurzen Anfall bemerkt zu haben. Dann blickte er - fast schon panisch - in ihre Richtung. Die Ampel war grün geworden, und sie hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Bis er aus seiner Starre herauskam und ihr schnellen Schrittes hinterherstürzen konnte, hatte sie bereits die Straße scchon überquert.

       Ich