Sündenlohn. Andre Rober. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andre Rober
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062830
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dem Schreibtisch breit, auch wenn Sarah und Feit Müller nicht wie Inge Wes­ter­hus so­fort die Bilder aus dem Leichenschauhaus vor dem inneren Auge hatten. Wie war es möglich, dass der grau­sam geschun­dene, teils verweste, mit Wunden übersäte, von Fressspuren gezeichnete, blasse, kalte Leichnam aus den Kellerräumen einst dieses lustige, voller Energie steckende Mädchen war? So schrecklich, so unvorstellbar war der Gedanke an das Martyr­ium, das die junge Frau durchleiden musste, bis sie, in unend­licher Angst und immer wieder aufkeimender Hoffnung, erkannt haben musste, dass sie nie wieder lachen, nie wieder die Men­schen sehen würde, die ihr viel bedeuteten, die sie liebte. Bis sich in den unerträglichen Schmerzen und der be­klem­menden Einsamkeit die Erkenntnis schlagartig oder schleichend manifestierte; die Erkenntnis, dass ihr Peiniger ihren Tod beschlossen hatte und es keinen Ausweg aus ihrer Situation gab. Dass es nichts und niemanden auf der Welt gab, der sie jetzt noch retten konnte.

      Feit Müller war einen Schritt zurückgetreten, so dass sich Sarahs und Westerhus` Blicke wieder trafen. Während die er­fahrene Polizistin in den Augen ihrer jüngeren Kollegin nur Trauer, Entsetzen und Abscheu lesen konnte, nahm Sarah bei ihrem Gegenüber noch etwas anderes wahr. Auch Westerhus war aufgewühlt, voller Mitgefühl und Fassungs­losigkeit. Doch ihre Augen verrieten auch Wut und eine Entschlossenheit, die wie in Stein gemeißelt, unverrückbar und kompromisslos ihr Innerstes beseelt hatte: Die Entschlossenheit, denjenigen, der für diese Tat verant­wortlich war, zur Rechenschaft zu ziehen und niemals in ihrem Vorhaben aufzugeben. Feit Müller bewegte sich wie­der einen Schritt nach vorne und griff - Gott sei Dank, schoss es durch Sarahs Kopf - nicht zu dem Schokoriegel sondern zu der Funkmaus, um ein wenig in der Akte nach unten zu scrollen.

      »Deswegen sind wir uns bei der Identifizierung relativ sicher«, sagte er und vergrößerte den Ausschnitt eines zweiten Fotos. Darauf war Andrea Keller beim Feder­ballspiel zu sehen. Gut zu erkennen war die Innenseite ihres hoch zum Schlag erhobenen rechten Oberarms. Je tiefer Feit Müller in das Bild hinein­zoomte, desto besser konnte man eine Zeile arabischer Schrift­zeichen erkennen, die längs in die Haut des Armes tätowiert war.

      »Soviel zu Herrmanns Vermutung das Tribal-Muster betreffend. Dass die junge Frau Orientwissenschaften stu­dierte, konnte ja keiner ahnen.« Feit Müller angelte sich, bevor er wie­der in den Hintergrund trat, nun doch noch sein Snickers und steckte sich den Rest in einem Stück in den Mund.

      »Aber Größe und Lage des Tattoos, Körpermaße der Frau, Al­ter, Haarfarbe, Statur, alles passt zusammen. Um sicher­zu­gehen, müssen wir natürlich Andrea Kellers Eltern kon­taktieren und sie um Zahnarztbefunde oder für das DNA Labor verwert­bare Dinge ihrer Tochter bitten.«

      Sarah war sich nicht sicher, was wohl für die Eltern die schlimmere Nachricht bedeuten würde: Erleichterung, dass es sich bei der Toten nicht um ihre Tochter handelte und weiter Hoffnung haben, oder die Sicherheit, dass Andrea nicht wieder nach Hause kommen würde, und trotzdem – wegen des grausigen Anblicks - kein wirklicher Abschied von der gelieb­ten Tochter möglich sein würde. Sie mochte sich in die Gefühls­achterbahn der Eltern gar nicht erst hin­ein­versetzen.

      »Wie lange wird sie denn schon vermisst?«, nahm Inge Wester­hus Sarahs nächste Frage vorweg und scrollte zum Datenteil der Akte.

      »Seit vorgestern?«, entfuhr es Sarah ungläubig, als sie das Datum sah. »Das kann ja wohl nicht sein! Unser Opfer ist doch sicher seit etwa vierzehn Tagen tot und befand sich vor­her längere Zeit in der Gewalt des Täters! Sie ist es nicht!«

      »Da wäre ich mir nicht so sicher«, ergriff Feit Müller das Wort.

      »Es gibt viele Gründe, warum Eltern ihr erwach­senes Kind erst deutlich später vermisst melden. Eine gestörte Bezieh­ung, eine längere Reise, ein hoher Grad an Selbständigkeit. Es kommt jede Menge in Frage. Wir müssen auf jeden Fall mit ihnen sprechen.«

      Inge Westerhus nickte bestätigend.

      »Frau Hansen, wollen Sie das Telefonat führen? Sie sind doch sehr einfühlsam, oder?«

      Sarah schluckte kurz, aber signalisierte Inge Westerhus mit zu­sammengepressten Lippen und der Andeutung eines Nickens ihr Einverständnis.

      »Natürlich, das mache ich«, fügte sie leise hinzu.

      »OK, dann beeilen wir uns, die Identifizierung zu be­stätigen. Sicher ergeben sich bei der Befragung der Eltern und des Um­feldes, so es sich denn um Andrea Keller han­delt, weitere An­satz­punkte für unsere Ermittlungen.«

      Inge Westerhus klickte auf Datei drucken, wählte den Farb­laser im Geräteraum und erhöhte die Anzahl der Exemplare auf „3“. Dann schloss sie die Vermisstenakte und wandte sich an Feit Müller.

      »Feit, du und Bernd, ihr schaut nach ungeklärten oder auch ge­klärten Todesfällen, die in irgendeiner Art unserem ähnlich sind. Also Frauen, die verschwunden sind und denen Augen und Mund zugenäht wurden. Bitte schaut bundesweit, und setzt euch auch mit den Kollegen in Dänemark und den Nieder­landen in Verbindung. Frau Hansen, noch eine Idee hierzu?«

      Sarah nickte beflissentlich.

      »Ja, die habe ich. Ich würde zuerst nach anderen Merkma­len suchen. Und zwar nach Alter, Geschlecht, Statur, Haar­farbe et cetera. Achten Sie auch auf Details wie die Art der Fesselung, mög­licherweise auch darauf, dass die Opfer längere Zeit verschwunden waren, bevor der Tod eintrat.«

      Feit Müller stutzte.

      »Sie finden das mit dem Zunähen von Mund und Augen nicht als markant genug?«

      Sarah nickte bekräftigend.

      »Doch, aber genau das ist der Punkt. Hätten Sie nicht von sol­chen Fällen gehört, wenn schon Opfer mit solch grau­samen Verletzungen gefunden worden wären? Die Sache ist nämlich die, dass, wenn es sich tatsächlich um einen Serien­täter handelt, der schon über die Phase des Fantasierens hinaus ist, sprich getötet hat, dann folgt er bestimmten Grundmustern…«

      »Wie die verfluchte Sch… mit dem Zunähen«, unterbrach Müller, doch Inge Westerhus hatte verstanden.

      »Sie meinen, dass das Grundschema zunächst die Art des Op­fers ist, das er auswählt und jene Verstümmelungen erst später hinzukamen? Er sich sozusagen weiter­entwickelt hat?«

      »So ist es«, bestätigte Sarah. »Möglicherweise ist Andrea Kel­ler nicht sein erstes Opfer, aber das erste, dem er…«, sie rang sichtlich um die richtigen Worte, «… die vorliegenden Ab­scheu­lichkeiten zugefügt hat. Serientäter durchlaufen häufig eine Art Entwicklung, wie Sie richtig sagen. Diese kann ganz unterschiedlich ausfallen. Von manchen Tätern weiß man, dass sie zum Beispiel die Art, das Opfer zu töten, akribisch perfektioniert haben. Die Maßstäbe, die für sie eine Verbesserung bedeuten, mögen in unseren Augen krank und nicht nach­vollziehbar sein. Für den Täter folgen sie aber durchaus einer gewissen Logik.«

      »Und wie habe ich mir so eine Entwicklung in unserem Fall vorzustellen?«, fragte Feit Müller nach.

      »Die psychiatrische Forensik beschreibt bei Serientätern ein Grundschema, das eigentlich immer gleich ist. Das bezieht sich natürlich auf pathologisch kranke Menschen, die einem Zwang folgen, ein Trauma verarbeiten oder Ähnliches. Auf­tragskiller zum Beispiel, die aus monetärem Kalkül heraus mehrere Men­schen töten, haben natürlich eine komplett andere Moti­vation und spielen bei unserer Be­trachtung kei­ne Rolle. Das Gleiche gilt auch für Massen­mord im militä­rischen Zusammenhang, wie Töten auf Befehl oder Vergel­tung am Gegner oder der Zi­vil­bevölkerung. Diese und auch der Amoklauf fallen nicht unter den Begriff des Serien­mörders.«

      Inge Westerhus hörte Sarah voller Anerkennung zu. Die Art, wie sie Feit Müller die Fakten vortrug, war beein­druck­end. Auch der Kollege folgte gespannt Sarahs Aus­führ­un­gen.

      »Man unterscheidet zwischen unterschiedlich motivierten Serienmördern. In unserem Fall können wir davon ausge­hen, dass wir es mit einer traumatisch ausgelösten Störung zu tun haben. Wobei auch ein sexuell motivierter Täter in Frage käme, selbst wenn die Rechtsmedizin keinen Hinweis darauf gefun­den hat.«

      »Sexuell motiviert