Sündenlohn. Andre Rober. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andre Rober
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062830
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das Riechen an irgendwelchen Körperteilen seiner Op­­fer. Vielleicht zieht er auch Befriedigung aus dem Zunä­hen des Mundes und der Augen. Was für ihn sexuell stimu­lierend ist und ihn auch zu einem Orgasmus bringen kann, geschieht ohne die klas­sischen Anzeichen einer Vergewal­tigung oder eines Ge­schlechts­­­aktes.«

      »Es kann auch«, griff Sarah den Faden wieder auf, »eine Kom­bination aus traumabedingter und sexueller Motiva­tion sein. In der Regel beginnt die Geschichte eines solch gestörten Charakters mit einem Vorfall in der frühen Kindheit oder Ju­gend. Das kann ein einmaliges trauma­tisches Erlebnis sein, oder auch ein über längeren Zeitraum erlebter Umstand. Zeuge eines Gewaltverbrechens oder systematischer Missbrauch sind Beispiele. Natürlich spielen Umfeld, genetische Disposition, die Chance, das Erlebte auf­zuarbeiten, ganz tragende Rollen, denn schließlich wird nicht jedes Missbrauchsopfer zum Serienkiller. Es bedarf immer vieler und auch subjektiver Faktoren, um ein solches Verhalten hervorzubringen.«

      »Und das geschieht dann plötzlich? Oder wie?« Feit Mül­lers Interesse war geweckt.

      »In der Regel geht den Taten eine lange Phase voraus, in der zunächst fantasiert wird. Dann kann es ein Zufall sein, die Begegnung mit einer Person, ein Erlebnis, eine Szene in einem Kinofilm, das den Auslöser für den nächsten Schritt darstellt: Eine Phase, in der sich der Täter in der Realität an seine Fantasien annähert. Das ist in der Regel visuell und kann mit Voyeurismus umschrieben werden. Aber Vor­sicht: Das be­deutet nicht, dass jeder Voyeur ein verkappter Serientäter in seiner visuellen Phase ist!«

      »Klar, sonst würde ich mir bei einigen meiner Kumpels ernsthaft Sorgen machen.«

      Dass dies kein Witz sein sollte, sondern eine ernst gemeinte Feststellung des Polizisten, war allein wegen seines Ton­falles eindeutig.

      »Irgendwann reicht dann das visuelle Erlebnis nicht mehr aus, die Bedürfnisse zu befriedigen. Und bei manchen kommt es tatsächlich zur Tat. Nicht bei allen. Manche schaf­fen es, sich ein Leben lang zu beherrschen, andere nehmen sich das Leben. Nur ein verschwindend geringer Promille­satz der Personen mit ent­sprechender Disposition wird zum Serientäter.«

      Sarah sah sich nach ihrem Wasserglas um, da es aber leer war, räusperte sie sich nur und fuhr dann fort.

      »In signifikant häufigen Fällen ist es auch so, dass der Täter die Art seiner Handlungen nach einer langen Pause modi­fiziert, zum Beispiel durch so etwas, wie in unserem Fall, die zugenähten Körperöffnungen. Entweder er hat das in den passiven Phasen seinen Fantasien hinzugefügt, oder aber es war schon immer Bestandteil seiner Fantasien, kam aber nicht zur Ausführung. Es ist also nichts, das auspro­biert und möglicher­weise wieder verworfen wird. Er hat sein Gefühl, seine Befriedigung, schlicht seinen Benefit in den Träumen vorweg­genommen und Gefallen daran. Eine solche Modifikation des MO wird er nicht wieder auf­geben.«

      »Und wegen seiner Entwicklung und der damit verbun­denen Änderung bestimmter Tatmuster ist es wichtig, uns zunächst auf die wesentlichen Umstände zu konzentrie­ren«, konklu­dierte Feit Müller.

      »Und das sind Alter, Geschlecht, Aussehen, Statur, Haar­far­be, Kleidungsstil, möglicherweise auch Hobbys, ein Instrument zum Beispiel, oder eine bestimmte Sportart. All das sind die Merkmale, über die er seine Opfer möglicher­weise auswählt. Vielleicht war sein erstes Opfer im selben Musik- oder Turn­verein, und deswegen sucht er sich seine weiteren Opfer in eben jenem Umfeld. Die Handlungen sind eher nachgeschaltet und können sich, wie gesagt, entwickeln.« Sarah war sich sicher, dass der Kollege die Zusammenhänge verstanden hatte.

      »Sehr gut, was noch?«, wollte Westerhus wissen.

      »Gehen Sie bei den Recherchen ruhig einige Jahre in die Ver­­gangenheit. Oftmals ist es so, dass, wenn die Grenze zum ak­tiven Handeln, also der Übergang zum Töten, zum ersten Mal überschritten ist, die daraus gezogene Befriedi­gung sehr lange anhält. Bis zur nächsten Tat können Mona­te, ja sogar Jahre vergehen. Irgendwann werden die Inter­valle allerdings kürzer, weil das Glücks­gefühl nicht mehr so lange andauert.«

      Feit Müller und auch Inge Westerhus gaben ihrer Abscheu mit eindeutiger Gestik Luft.

      Die Polizistin nickte.

      »Mit der Modifikation seiner Handlungen steigt meist auch die Frequenz der Taten. MO steht übrigens für Modus Ope­randi, al­so quasi Vorgehensweise«, erläuterte sie an Feit Mül­ler gewandt, denn sie hatte dessen Stirnrunzeln bemerkt, als Sarah die Abkürzung verwendet hatte.

      »Heißt das, dass wir in Kürze mit einer weiteren Leiche zu rechnen haben?«, wollte er wissen.

      Sarah verneinte.

      »Das wollen wir doch nicht hoffen! Erhöhung der Frequenz muss nicht bedeuten, dass er jetzt jede Woche zuschlägt. Es kann auch bedeuten, von alle fünf Jahre auf alle zwei Jahre. Es muss auch nicht notwendigerweise jetzt dazu kommen. Nur drei Dinge sind sicher: Erstens, er wird wieder töten. Zwei­tens: irgendwann wird er anfangen, in geringeren Abständen zu töten. Und drittens: sollte es ein nächstes Op­fer geben, werden auch ihr Mund und Augen zugenäht werden. Davon lässt er nicht mehr ab.«

      Die nun entstandene Stille beendete Inge Westerhus mit klarem Pragmatismus.

      »OK, Feit, dann weißt du, wie ihr nachher vorzugehen habt.«

      Sie sah auf die Uhr und meinte:

      »Zeit für die Mittagspause. Trotz allem ein wenig Appetit?«

      Er hatte riesiges Glück, sie unter den vielen anderen Men­­schen überhaupt bemerkt zu haben. Sie war viel früher als sonst aufgetaucht, so viel früher, dass er noch nicht ein­mal da­rüber nachgedacht hatte, nach ihr Ausschau zu hal­ten. Der ein­zige Grund für seine Anwesenheit war das be­scheidene Angebot an Möglich­keiten, seinen Transporter legal und un­verfäng­lich abzustellen und trotzdem eine gute Sicht auf die Haltebuchten der Busse zu haben. Eigentlich hatte er vorge­habt, sich noch einige Zeit zurückzulehnen und mit ge­schlossenen Augen seinen Gedanken nachzu­hängen. Doch auf einmal war sie aufgetaucht, das Mobil­telefon am Ohr, lachend und mit dem beschwingten, ke­cken Gang. Sie trug heute ein türkisfarbenes T-Shirt, auf dem ein stilisierter Affe mit ziemlich breitem Mund abge­bildet war. Die Blue Jeans endete wieder zwei Handbreit über den Knöcheln, und an den Füßen trug sie heute bunte Turnschuhe. An dem schwarz-roten Rucksack hing eine gelbe Windjacke, und um den Hals hatte sie ein luftiges, bun­tes Tuch, das mit den Schuhen sehr gut harmonierte. Wieder bestach sie durch ihre unbeschwerte Art, sich zu bewegen, zu lächeln, den langen Pony aus dem Gesicht zu streichen. Eine innerliche Wärme erfüllte ihn, als er ihr neu­gierig, ja, fast sehnsüchtig mit seinen Blicken folgte. Der Bus der Linie drei kam, doch sie stieg nicht ein. Wartete sie noch auf jemanden, oder würde sie eine andere Linie nehmen? Nach wenigen Minuten stieg sie in den Bus Richtung Sankt Peter-Or­ding, und so hatte er Gewissheit: Er würde heute dabei sein, wenn sie etwas für ihn Neues tat. Ohne Hast lenkte er den VW in den Verkehr. Da er die Strecke, die der Bus befuhr, gut kannte, verfolgte er ihn nicht, sondern be­schränkte sich darauf, an den Haltestellen genau zu über­prüfen, ob sie ausgestiegen war oder nicht. Erst, als sich der Bus dem Bahnhof in Sankt Peter-Ording näherte, schloss er dichter auf, da es dort zu viele Möglichkeiten gab, sie nach der Ankunft aus den Augen zu verlieren. Dass er richtig da­ran getan hatte, zeigte sich unmittel­bar, denn sie sprin­tete nach Verlassen des Busses sofort los und stieg in den war­tenden Ortsbus. Wenn er die wenigen Sekun­den, die sie sicht­bar gewesen war, verpasst hätte, wäre die Spur für heu­­te verloren gewesen. Doch so konnte er ihr weiter fol­gen und beobachten, wie sie an den Dünenthermen ausstieg und zu Fuß weiter in Richtung Meer ging. Also überholte er sie beherzt, bog links auf den Parkplatz gegenüber des Strand­hotels, stellte den Transporter ab und beeilte sich, wieder zur Straße zu gelangen. Als er sie wieder ausge­macht hatte, blieb er auf der gegenüberliegenden Straßen­seite immer auf ihrer Höhe und verfolgte sie so bis zum Deichkind. Zielstrebig steuerte sie die Restaurant-Bar an. Durch die großen Glasscheiben konnte er erkennen, wie sie sich suchend umsah und dann mit einem Strahlen auf dem Ge­sicht zu einem der Tische mit Blick auf das Meer und den Über­gang zur Arche Noah trat. Die dort sitzende junge Frau stand auf,