Solera hat das Libretto fast fertiggestellt und wird es Donnerstag vormittag schon ins Reine geschrieben haben; er ist sehr zufrieden und hat mir gesagt, daß es schön ist; und daß es denen, die es [vorgelesen] gehört haben, überaus gefällt; das ist eine gute Nachricht. So wird sich also die Reise des signor Maestro nicht verzögern und er kann [nach Busseto] fahren, wann er will.[270]
Ende August liegt das Libretto fertig vor (Verdi wird noch einige Änderungen im Finale des Prologs und des letzten Aktes anbringen lassen), Anfang September kündigt Verdi seinem französischen Verleger Escudier[271] an, er werde in wenigen Tagen mit der Komposition beginnen. Doch Verdi hält sich einen Monat in Busseto auf und frönt dem Müßiggang.
Aus meinem ruhigen und friedlichen Busseto schreibe ich Dir, der Du in der lärmendsten Stadt der Welt bist. [...] Hier passiert ... nichts, nichts ... man ißt, man trinkt, man schläft 25 Stunden pro Tag: und ich mache das auch so. [...]
P.S. Gestern habe ich begonnen, den Attila zu schreiben und von da an werde ich statt 25 Stunden nur 24 Stunden pro Tag schlafen.[272]
Muzio widerspricht dem: „Er war von hier mit der Absicht zu schreiben weggefahren, er hat aber keine einzige Note gemacht.“[273]
Inzwischen ist Solera nach Spanien gereist, zu seiner Gattin, der Sängerin Teresa Rusmini, die in Barcelona engagiert ist. Der Librettist, der nicht nur als „einer der seltsamsten Männer, die je auf Erden gewandelt sind“, sondern auch als unzuverlässig beschrieben wird, hat Verdi zwar die Durchführung der ausstehenden Änderungen versprochen, doch beschränkt er sich darauf, aus Spanien, wo er sich jetzt als Impresario und Dirigent betätigt, Verdi zu ermächtigen, sich Piaves für die Änderungen zu bedienen. Dies ist das Ende der Zusammenarbeit mit Solera, ein verfrühtes Ende, da der Librettist an keinem Mißerfolg beteiligt war.
Im Oktober arbeitet Verdi am Attila. Er leidet an rheumatischen Fieberschüben und läßt sich von Muzio massieren. In den Momenten der Besserung seiner Gesundheit findet er zu seiner Begeisterung für den „schönen Stoff“ zurück. Angesichts der zu erwartenden Karriere in Paris äußert er im November den Wunsch, einen Französischlehrer zu finden, der ihn in die Lage versetzt, „zu lesen, zu übersetzen und zu sprechen“.
Der Jahresbeginn 1846 findet Verdi krank und ans Bett gefesselt vor. Er ist an einem gastrischen Fieber so schwer erkrankt, daß man um sein Leben fürchtet. Der übliche Theatertratsch wird verbreitet, jeder, der ihn weitererzählt, fügt etwas hinzu, bis die Allgemeine musikalische Zeitung in Leipzig schließlich folgerichtig Verdis Tod meldet. Am 21. Jänner kann er erstmals das Bett wieder verlassen, ist aber noch sehr schwach. Unterdessen ist Giuseppina Strepponi zum letzten Mal auf der Bühne aufgetreten (Nabucco in Modena, 11. Jänner 1846). Die Uraufführung des Attila muß zwangsläufig verschoben werden. Verdi informiert auch Lucca von seiner Krankheit, durch dessen Vermittlung er einen Vertrag mit Benjamin Lumley, dem Impresario von Her Majesty’s Theatre in London, für eine neue Oper abgeschlossen hat, deren Uraufführung nun auf 1847 verschoben werden muß. Die ärztliche Bestätigung des Dr. Namias vom 22. März 1846 gibt Aufschluß über Verdis Gesundheitszustand:
Ich bestätige unter Eid, daß Herr Giuseppe Verdi, Komponist, von mir wegen eines gastrischen Fiebers behandelt wurde, das viele Wochen dauerte und immer wiederkehrte, dadurch wurde der Körper geschwächt und die Drüsen des Mesenteriums verstopft. In dem Zustand, in welchem er sich befindet, könnte er die Reise nach London jetzt nicht unternehmen oder lange und angestrengt arbeiten, ohne sich in höchste Lebensgefahr zu begeben.[274]
Im Februar erleidet er einen Rückfall. Zu seinem Bedauern muß er auch den Vertrag, den ihm der Direktor der Pariser Opéra angeboten hat, vorläufig ablehnen und auf später verschieben. Irgendwie gelingt es ihm, den Attila fertigzustellen, um zu ermöglichen, daß noch einige Vorstellungen vor Ende der Stagione stattfinden können.
Inzwischen geht die Karnevalssaison in Venedig ihrem Ende zu. Als Eröffnung wurde Giovanna d’Arco (mit Loewe, Guasco, Costantini) gespielt, es folgte Ernani mit denselben Sängern und dem Baß Ignazio Marini sowie Donizettis Adelia und Poniatowskis La sposa d’Abido.
A
m 16. März 1846 findet die Generalprobe zu Attila statt, tags darauf die Premiere. Es singen die angekündigten Sänger Loewe, Guasco, Costantini und Marini. Am selben Tag informiert Verdi Clara Maffei:
Attila hatte insgesamt einen sehr erfreulichen Erfolg. Für einen armen Kranken waren der Applaus und die Hervorrufe sogar zuviel. Vielleicht wurde nicht alles [gleich] verstanden und man wird es [erst] heute abend verstehen. – Meine Freunde meinen, dies sei die beste meiner Opern: das Publikum streitet sich darüber: ich sage, daß sie keiner meiner anderen Opern unterlegen ist: die Zeit wird entscheiden.[275]
Bei der zweiten Vorstellung tags darauf ist der Erfolg noch größer.
Attila hat am ersten Abend einen überaus guten Erfolg gehabt, bei der zweiten Vorstellung hat er glühende Begeisterung geweckt. Es gab kein Stück, das nicht beklatscht wurde, und in der Folge zahllose Hervorrufe. [...] Alle Sänger haben mit maximalem Einsatz gesungen und alle haben sich ausgezeichnet.[276]
Die dritte Vorstellung, die letzte, an der der Komponist vertragsgemäß teilzunehmen hat, endet triumphal. Auch die Venezianer identifizieren sich wie seinerzeit die Mailänder mit dem Bühnengeschehen. Als Ezio im Duett mit Attila zu der Zeile „Avrai tu l’universo / resti l’Italia a me“ kommt, bricht die Zuhörerschaft in tumultuöse Zustimmung aus: „A noi! L’Italia a noi!“ wird gerufen. Aus heutiger Sicht wundern wir uns nicht über die Publikumsreaktion[277], sondern über die Unfähigkeit der österreichischen Zensur, die politische Sprengkraft dieser Zeilen zu erkennen. Verdi wird als Held gefeiert und
mit brennenden Fackeln, zur Musik einer ausgewählten Militärkapelle, unter denselben Hochrufen und demselben Applaus, die ihm [das Publikum] im Theater zuteil werden ließen, [nach Hause geleitet]. – Unser guter Marini, den viele andere hervorragende Künstler umringten und begleiteten, reichte dem rekonvaleszenten Maestro den Arm und stützte ihn mit solcher Liebe, solcher Behutsamkeit, daß man ihn für einen Vater oder Bruder gehalten hätte.[278]
Ein Bankett zu Verdis Ehren wird abgehalten, am 22. März reist der Komponist von Venedig nach Mailand. Es ist eine Tagesreise.
Gestern abend um sechs Uhr ist der signor Maestro aus Venedig kommend hier eingetroffen. Er hat unter der Reise gar nicht gelitten. Er hat von der Krankheit sehr abgenommen; aber seine Augen sind sehr lebhaft und seine Gesichtsfarbe eher gut. [...] Die morgige Ausgabe des Pirata wird ankündigen, daß die Ärzte dem Maestro Verdi sechs Monate Ruhe verschrieben haben, weshalb er nicht nach London fahren wird.[279]
Am 24. März 1846 endet die Saison in Venedig. Die letzte Attila-Vorstellung verzeichnet eine Rekordeinnahme: 5428 österreichische Lire. Die Premiere hatte 3468 österreichische Lire eingebracht, genausoviel wie die Giovanna d’Arco zu S. Stefano. Zum Vergleich: Die Durchschnittseinnahmen in dieser Saison betragen zwischen 600 und 800 österreichische Lire pro Abend.[280] Attila tritt 1846 einen Triumphzug durch die Opernhäuser Italiens an: Florenz, Reggio Emilia, Lucca, Livorno, Bologna spielen das Werk. Für Triest schreibt Verdi nach Rossinis diesbezüglichen Interventionen eine neue Romanze für Nicolai Ivanoff („Sventurato! alla mia vita“), eine zweite für Napoleone Moriani („Oh dolore! ed io vivea“), der sie an der Scala singt. Parma, Genua, Rom, Neapel und Turin schließen sich an, ab 1847 ist Attila in ganz Europa zu hören.
Macbeth
N
ach Attila steht ein großes Arbeitspensum an: Verdi soll eine neue Oper für Neapel komponieren, eine für Paris schreiben oder adaptieren und ihre Aufführung jedenfalls selbst leiten sowie zwei weitere für Francesco Lucca komponieren. Eine davon ist als Welturaufführung für den Impresario Benjamin Lumley gedacht, den er am 28. Oktober 1845 in Mailand empfangen