Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch von keinem bestimmten Stoff die Rede ist, entnehmen wir aus diesem Brief schon die von Lanari[259] für Venedig engagierte Truppe. Anstelle der früher in Betracht gezogenen Berühmtheiten Varesi, De Bassini, Colini oder Dérivis jetzt also der Bariton Natale Costantini. Er ist zu diesem Zeitpunkt weniger bekannt als seine Kollegen, aber gerade im Begriff, sich als Verdi-Bariton einen Namen zu machen: Er hat 1844 den Nabucco in Mantua, Fermo und Rovigo gesungen, die Lombardi in Parma, den Ernani in Rovigo, Genua, Ravenna und Fermo und dort auch die Foscari.
I
m März fährt Verdi auf einen Kurzbesuch nach Venedig, um die Proben der Foscari zu leiten, die am 30. März 1845 am Teatro San Benedetto aufgeführt werden. Die Sänger sind Gertrude Bortolotti (Lucrezia Contarini), Giovanni Pancani (Jacopo Foscari), Celestino Salvatori (Francesco Foscari) und Agostino Rodas (Jacopo Loredano). Es dirigiert Antonio Gallo, der nicht nur ein bekannter Buchhändler, sondern auch der Besitzer und Impresario des Teatro San Benedetto ist. Nach ihm wird das Theater auch als Teatro Gallo bezeichnet. Für den Bariton Salvatori paßt Verdi die Partie an.[260]
Er kündigt Piave nach seiner Rückkehr nach Mailand brieflich Anfang April den Entwurf für die neue Oper an:
Maffei wird mir den Entwurf des Attila machen und ich werde Dir das deutsche Drama schicken und das Ballett, das, wie ich glaube, von Viganò ist.[261]
Es ist also wahrscheinlich Verdis Freund Maffei, der ihn auf das Sujet bringt. Graf Andrea Maffei (Molina di Ledro, Trento, 1798 – Mailand 1885) ist ein Literat, der zahlreiche Werke aus dem Englischen (Shakespeare, Milton, Moore) und aus dem Deutschen (Goethe, Gessner) ins Italienische übersetzte. Seit 1827 arbeitete er an der Übersetzung der Theaterstücke Schillers. 1843 veröffentlichte er einen Roman, Roberto. Verdi wurde von Maffei im Salon seiner Gattin Clarina Maffei eingeführt, mit der ihn in der Folge ein lebenslange enge Freunschaft verband. Abgesehen von seiner Mitarbeit am Macbeth schrieb er für Verdi das Libretto zu I masnadieri und drei Romanzen, die Verdi vertonte (Il tramonto, Ad una stella und Brindisi, 1845). Die Bedeutung des hochgebildeten Maffei für Verdi liegt vor allem darin, daß er mit seinem supranationalen Kulturverständnis in Verdi dauerhaftes Interesse für die großen Themen und Autoren der europäischen Literatur zu wecken verstand.[262]
Abb. 25 – Graf Andrea Maffei (1798-1885), Literat, Übersetzer, Librettist. Portrait von Michele Gordigiani (1830-1903).
Möglicherweise könnte Verdi aber auch durch Madame de Staëls De l’Allemagne (1810) auf Zacharias Werner und dessen Attila gestoßen sein. Er schickt Piave die angesprochenen Unterlagen und widmet sich der Arbeit an Alzira und deren Aufführung in Neapel. Im August 1845 kehrt er aus Neapel nach Mailand zurück. Er versucht, die Erinnerung an das Alzira-Erlebnis zu verdrängen und beschäftigt sich mit seinen nächsten Verpflichtungen. Schon seit einiger Zeit wird er von Giovannina Lucca, der Gattin des Verlegers Francesco Lucca, bestürmt: Sie will für den Verlag ihres Gatten unbedingt eine Oper von Verdi. Muzio hat schon ein Jahr zuvor darüber berichtet.
Raten Sie ein wenig, mein Herr, an wieviele Theater Ricordi die Partitur des Ernani bereits geschickt hat?... an mehr als zwanzig. [...] Der Verleger Lucca ist bisweilen völlig von Sinnen, weil er nicht das Eigentum an einer Oper des signor Maestro erwerben kann, denn er sieht, daß Ricordi groß daran verdient, weil er allein für die Kopien der Partitur des Ernani (nicht inbegriffen die zahlreichen Klavierauszüge) schon mehr als dreißigtausend österreichische Lire eingenommen hat; und wenn der signor Maestro ihm eine Partitur verspricht, wird er gleich gesund werden; ich glaube es aber nicht, daß er [Verdi] das tun wird. Die Gattin des besagten Verlegers ist zum signor Maestro gekommen, um ihn anzuflehen, um ihn zu beschwören, daß er ihm das Eigentum an einer seiner Opern gibt, es wird ihm jeder Preis, den er will, bezahlt. Er will es ihm aber nicht geben. Diese Frau sagte, daß er auch, wenn sie im Bett liegen, nichts anders tut als seufzen. Der signor Maestro sagte zu ihr, wenn er sonst nichts tut als seufzen ..., zog so das Ganze ins Lächerliche und tat die Sache damit ab.[263]
Anfang 1845 erreicht Lucca sein Ziel dennoch:
Der Verleger Lucca hat endlich das Eigentum an einer Oper des signor Maestro erhalten, und zwar an der, die für Venedig für den nächsten Karneval gedacht ist. Er hat sie von Lanari für dreizehntausend österreichische Lire gekauft und sie ihm dann gratis für 8 Theater überlassen; so werden es also mehr als zwanzigtausend Lire sein. Der besagte Lanari möchte den signor Maestro auch noch für Rom verpflichten; und heute hat ihm der signor Maestro geschrieben, daß er sie nicht für einen halben Pfennig weniger als 900 Napoleondor schreibt.[264]
Verdi hat noch die Unstimmigkeiten mit Ricordi im Gedächtnis, dies ist die Gelegenheit, ihm deutlich zu machen, daß er auch Konkurrenten hat. Seine Auftragslage ist zu dieser Zeit komplex, er hat mehrere Angebote vorliegen, darunter solche aus Paris und London, und muß Prioritäten setzen – die Galeerenjahre sind voll im Gange. Verdi komponiert vorerst sechs Lieder für Singstimme und Klavier[265] und gibt sie Lucca zur Veröffentlichung, wohl um seinen guten Willen zu zeigen und den ungeduldigen Verleger ruhigzustellen, denn er nimmt jetzt nicht das Projekt für Lucca in Angriff, sondern den Attila.
Leider ist dieser Zeitraum schlecht dokumentiert: Der Copialettere weist zwischen Juli 1844 und April 1845 eine Lücke auf und auch das Archiv des Teatro La Fenice gibt kaum näheren Aufschluß über die Entstehung der neuen Oper. Der Grund dafür liegt darin, daß Verdi – zum Unterschied von den anderen für Venedig komponierten Opern – die Verhandlungen mit dem Fenice nicht direkt führt, sondern über den dazwischengeschalteten Lanari.
Die Vorlage für die neue Oper ist das Bühnenstück Attila, König der Hunnen von Zacharias Werner (1808). (Auch Beethoven hatte den Stoff für eine Oper in Betracht gezogen.) Er zeigt sich von dem Stück, das „prächtige und effektvolle Szenen“, „großartige Charaktere“ und „wunderbare Chöre“[266] enthält, sehr beeindruckt, hat es aber zurückgestellt, um I due Foscari zu komponieren. Er legt Piave dringend und ausführlich ans Herz, sich mit dem Stück zu beschäftigen: „Mir scheint, daß man eine schöne Arbeit daraus machen kann, und wenn Du es ernsthaft studierst, wird Dein schönstes Libretto daraus werden.“ Doch dazu soll es nicht kommen. Warum Verdi im Sommer, vor seiner Abreise nach Neapel, Piave den Auftrag entzieht und ihn Solera überträgt, wissen wir nicht genau: Die Zeitschrift Il Pirata meldet ihren Lesern am 24. Juni:
Fr. M. Piave wird für den M° Verdi die Textbücher für den Frühling und Karneval 1846 anstelle von Herrn Solera schreiben. Im Gegenzug tritt er das Textbuch, das für den kommenden Karneval in Venedig vom genannten Maestro vertont werden soll, an Solera ab.
Ebensowenig erhellend ist ein Brief Verdis aus Neapel an den Librettisten Jacopo Ferretti: „Ich glaube, daß Piave mir den Attila nicht mehr machen wird.“[267] Welche Gründe dahinterstecken, ist auch Verdis Brief an Piave nicht zu entnehmen:
Ich sehe, daß Du ein guter Junge bist! Brav, brav: Du bist einsichtig, so ist es recht. Reden wir nicht mehr vom Textbuch für Venedig und denken wir an das [Libretto], das wir für Genua, oder für Wien, oder für ... weiß der Teufel wo ... wer weiß!... schreiben werden.[268]
Das angesprochene Libretto wird jedoch für keine der genannten Städte, sondern für Florenz sein. Es wird der Macbeth sein. Faktum ist, daß Solera im Sommer beginnen soll, das Attila-Libretto zu schreiben:
Der signor Maestro hat Solera geschrieben, daß er eigens nach Mailand kommt, um den Attila entgegenzunehmen, aus dem er seine schönste Oper machen will; aber dieser stinkfaule Dichter hat nichts gearbeitet; ich habe es Cav. Maffei und Toccagni gesagt, die werden ihn zur Arbeit anhalten, und er hat versprochen, Tag und Nacht zu arbeiten, und er wird [das Libretto] fertigstellen, bevor der signor Maestro kommt. Heute morgen lag er um 11 noch im Bett; es scheint also, daß er nicht arbeitet.[269]