St. John’s, die Hauptstadt der kanadischen Provinz Neufundland und Labrador, ist die älteste Stadt Nordamerikas und ungefähr so groß wie Mainz. Sein natürlicher Hafen, der von zwei Hügelketten geschützt wird, war seit der ersten belegten Besiedlung durch Europäer im Jahre 1497 permanent von militärisch strategischer Bedeutung. Mit der Ankunft der Europäer, die geschichtlich gesichert ist,{33} fing leider auch der Genozid an den eigentlichen Einheimischen an. Die Bethouk Indianer wurden bereits im 16. Jh. ausgerottet. Danach waren die Europäer unter sich, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Das eigentlich von Engländern gegründete St. John’s wurde von den Franzosen dreimal besetzt. Auch die Holländer attackierten die Stadt zwischenzeitlich im Jahr 1665, und letztmalig wurde die Stadt von den Nazis im U-Boot-Krieg während des 2. Weltkriegs terrorisiert.
Aber St. John’s steht auch für positive Ereignisse. Da es der Ort in Nordamerika ist, der Europa am nächsten liegt,{34} wurden hier technische Experimente gestartet, die unsere heutige schnelllebige Welt nachhaltig beeinflusst haben. Im Jahr 1901 wurde auf dem so genannten Signal Hill in St. John’s der erste Funkspruch aus der »Alten Welt« empfangen. Gesendet wurde er von Cornwall in England. Der Flughafen von St. John’s war der letzte Punkt in Amerika des ersten PANAM-Flugs über den Atlantik und Charles Lindbergh, der als erster den Atlantik im Flieger überquerte, machte ebenfalls letzte Station vor dem großen Sprung. Für mich war St. John’s nun zunächst der Ausgangspunkt meiner Reise durch den gesamten amerikanischen Kontinent bis nach Patagonien in Chile. Da bekanntlich aller Anfang schwer ist, musste ich dabei einige Hindernisse überwinden, schließlich befand ich mich nun in Nordamerika, wo jeder Mensch ein Auto hat. Dementsprechend hörte ich bei meinen Planungen permanent die Frage, wo denn mein Auto sei. Auf die Antwort, dass ich keines habe, waren meine Gesprächspartner nicht vorbereitet und sagten nur noch: »Oh my God.« Wahrscheinlich drückt dies das Mitleid aus, das mir »armen Hund« entgegengebracht wird. Wie die Reise nun von der ältesten Stadt Amerikas in Richtung Süden weitergeht? Ich wusste es zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Kapitels selbst noch nicht – schauen wir mal.
Neu gefundenes Land und ein bisschen Europa in Amerika
Etappe: Von St. John’s NF, Canada 48° Nord 53° West (GMT-2:30) nach Halifax NS, Canada 45° Nord 64° West (GMT-3): 2.105 km – Total 13.082 km
Halifax, 27. September 2002
Nachdem ich im Nebel von St. John’s gelandet war, sah ich von der Stadt natürlich nicht sehr viel. Ich kam mir vor wie bei uns im November. Nieselregen, Nebelschwaden und düstere Straßen, die nur gelegentlich von Straßenlaternen erleuchtet wurden, prägten das Bild. Aber glücklicherweise ändert sich in diesem Teil der Welt das Wetter sehr schnell. Dementsprechend war ich am nächsten Tag vom blauen Himmel begeistert und nach den nahezu baumlosen Inseln, wie Island, den Faröer und den Shetlands war ich von den vielen Nadelbäumen, die in St. John’s wachsen, sehr fasziniert. St. John’s ähnelt einem riesigen bunten Mosaik. Jeder Bewohner hat sein Holzhäuschen in einer anderen Farbe angestrichen. So sieht die Stadt am Tag selbst bei Regenwetter durch den Farbmix sehr freundlich und einladend aus. In St. John’s lernte ich auch erstmals die Hilfsbereitschaft der Bewohner kennen, die mich in Neufundland seither so fasziniert. In der Association Francophone{35} durfte ich das vorangegangene Kapitel kostenlos verfassen, sodass mein Budget, trotz hoher Lebenshaltungskosten, noch immer nicht gesprengt ist. In den nächsten Tagen wurde ich noch mehrmals von der Freundlichkeit der »Newfies«{36} überrascht. Dabei haben die Newfies für Kanadier dieselbe Bedeutung, wie die Ostfriesen bei uns in Deutschland. Warum man über diese Menschen Witze macht, kann ich mir nicht erklären. Vielleicht liegt es am Idealismus, anderen Menschen selbstlos zu helfen? Die Insel, auf der die Newfies leben, ist etwa so groß wie die Benelux-Länder. Viele Leser werden Neufundland sicher schon gesehen haben. Bei den meisten Transatlantik-Flügen an die Ostküste Amerikas ist das erste Land westlich des Atlantiks Neufundland. Dementsprechend sah ich auch morgens bei blauem Himmel permanent Flugzeuge im Minutenabstand am Himmel vorbeiziehen. Auf den Gedanken, auf dieser Insel einmal Station zu machen, kommen sicherlich die wenigsten der darüber fliegenden Passagiere. Dabei gibt es tatsächlich viel zu entdecken.
Der erste, der auf diesen Gedanken kam, dass es dort etwas Besonderes gibt, war 1497 John Cabot, der im Auftrag von Heinrich VII., König von England, in die neue Welt aufbrach und ganz im Osten des neu »entdeckten« Kontinents neues Land gefunden hat: deshalb nannte er die Insel auch »New Found Land«. Die Insel war Englands erste Kolonie auf dem Weg zum Empire. Das besondere waren bis in die 90er Jahre des 20. Jh. die fischreichen Gewässer an der Südküste der Insel. Die Newfies, die hauptsächlich englische und irische Vorfahren haben, lebten hauptsächlich vom Fischfang, bis 1995 ein Moratorium in Kraft trat, das den Fischfang fast unmöglich machte. Grund dafür waren die riesigen Fischfang-Flotten fremder Länder, die die ehemals reichen Fischgründe völlig leer fischten. Daher darf um Neufundland praktisch nicht mehr gefischt werden. Darunter leiden hauptsächlich die Newfies, die sich seither mit Hummerfang und Fischfarmen buchstäblich über Wasser zu halten versuchen. Die Arbeitslosenquote ist mit 20 Prozent für kanadische Verhältnisse vergleichsweise hoch.
Um von St. John’s aus meine Reise durch den amerikanischen Kontinent zu beginnen, startete ich mit einem so genannten Van-Service, um den kleinen Katzensprung von 350 Kilometern auf die Burin-Halbinsel zurück zu legen. Normale Busse existieren in Neufundland kaum, sondern eher Wagen in Gestalt kleiner alter Schulbusse, die die Passagiere von zu Hause abholen und am Bestimmungsort möglichst noch bis in die Küche bringen. Leider wurde ich in St. John’s als erster abgeholt und durfte anschließend eine Stunde lang eine kostenlose Stadtrundfahrt genießen, da wir jeden Passagier abholten. Als sich endlich alle Kunden an Bord befanden, ging es »on the road«.
Die Landschaft mit ihren endlosen Nadelwäldern, Seen und Hügeln zog mich sofort in ihren Bann. Doch auf die Dauer wäre dies ohne die richtig Musik im Bus sicherlich langweilig geworden. Dementsprechend genoss ich die Landschaft, während ich durch das Radio des Fahrers mit Aerosmiths »Dream On« und Guns N’ Roses »Paradise City« beschallt wurde. Meine Mitreisenden, die alle so um die 70 waren, Fahrer inklusive, fuhren anscheinend auch auf den Hard-Rock ab, denn die Baseball-Mützen wippten alle richtig im Takt. Danach bekam ich eine Kostprobe vom Fastfood der besonderen Art. Der Fahrer hatte sich an der Tankstelle eine Portion Hähnchenschenkel gekauft, musste aber unbedingt gleich weiterfahren. Geschickt wurde der Plastikteller am Armaturenbrett eingeklemmt. Ein Müllbeutel am Hebearm zur Passagiertür diente gleichzeitig als Basketballkorb. Während er mit der einen Hand lenkte, hielt der Fahrer in der anderen den Hähnchenschenkel, der schließlich abgeknabbert mit einem geschickten Wurf in Richtung Tür meist im Müllbeutel landete.
Die Kopf schwingenden Omas und Opas hingegen schlürften ihre Diät-Cola und mampften Chips im Takt dazu. Danach zog sich jeder einen Kaugummi rein und es wurde zur Musik im Radio eine eigene Blasmusik mittels Kaugummi dargeboten. Schließlich fuhren wir leider aus dem Sendebereich des Radios hinaus, dem Sonnenuntergang entgegen. Um die Stille zu übertönen wurde eine Kassette eingelegt, auf der sich die Lieblingssongs unseres Fahrers befanden. Erst sang er bei der Newfie-Countrymusic, die der irischen Folk-Music ähnelt, lauthals mit. Danach kam der Höhepunkt mit »Joyride« von Roxette, wo er endlich richtig pfeifen konnte und bei starkem Gefühlsausbruch auch das eine oder andere Mal die Hupe betätigte. Schließlich kamen wir wieder in den Bereich eines Radiosenders. Statt in Neufundland nicht existierende Staus zu erwähnen, berichten die Radiosprecher über »Moosecide«, Unfälle mit dem Auto, bei denen der Elch eine entscheidende Rolle spielt. Die größte Gefahr beim Fahren auf den Straßen besteht im Osten Kanadas tatsächlich in der Kollision mit einem Elch, der gerne nachts auf den geteerten Trassen entlang zieht, da dies natürlich weniger Kraft beansprucht, als querfeldein zu laufen.
Am nächsten Tag war nach über vier Wochen mein kulinarischer Leidensweg zu Ende. Ich reiste endlich wieder in die »Grande Nation« ein. Mit der Fähre fuhr ich