Glücklicherweise hat Island aber die wohltuendsten Schwimmbäder der Welt, mit natürlichen Dampfbädern ausgestattet und vorherrschenden angenehmen Temperaturen von 29°C bis 43°C unter freiem Himmel. Dass die Isländer einen etwas anderen Musikgeschmack haben, wissen wir sicherlich seit Björk. Dass aber im Schwimmbad in ohrenbetäubender Lautstärke Rammstein, Eminem und Limp Bizkit gespielt wird, war mir neu. Ich fand es allerdings wirklich prima. Außerdem gab es im Supermarkt Red Hot Chili Peppers, Rage against the Machine und im Fastfood-Restaurant sogar Slayer als Hörgenuss.
Irgendwie sind die Isländer tatsächlich »anders«, zumindest was den Straßen- und Hausbau betrifft. Bevor ein Haus hochgezogen oder eine Straße gebaut wird, muss erst geklärt werden, ob das entsprechende Grundstück nicht von den so genannten »Kleinen Leuten«, das heißt von Elfen, Trolls und Gnomen bewohnt wird. Um manche Felsbrocken machen die Straßen einen Bogen, da dort »jemand« seinen Wohnsitz hat. Auf manchen Felsen sind sogar kleine Türchen aufgemalt, damit die Wesen ein und ausgehen können. Andererseits gehen die Isländer mit ihrer Umwelt manchmal sehr sorglos um. Mülltrennung ist meist unbekannt, und das Auto wird auch für den kleinsten Weg benutzt. Glücklicherweise habe ich nie total besoffenen Isländer getroffen, denn man sagt diesem Völkchen nach, oft betrunken zu sein. Aber der Alkohol ist fast unerschwinglich, wenn ich für einen halben Liter Bier etwa 3 Euro pro Dose im Zwölfer-Pack oder bis zu 10 Euro im Pub hinblättern muss. Außerdem wird der Alkohol in separaten Geschäften verkauft, die ich als Fremder meist sowieso nicht entdeckte. Von daher habe ich bekanntlich meine Liebe zum Light Beer entdeckt, das mit einem Euro sehr erschwinglich und im Supermarkt erhältlich war. Neben dem Light Beer machen die Isländer tatsächlich gutes Brot, das es mit dem deutschen aufnehmen kann. Mein Lieblingsbrot, das Rugbrauð, ist rabenschwarz und schmeckt wie eine Mischung aus Lebkuchen und Pumpernickel. Außerdem macht es satt, anders als dieses Knautsch-Weißbrot, welches es sonst in den meisten Ländern zu kaufen gibt.
Um die Besonderheiten eines Landes zu entdecken, muss ich manchmal gar nicht suchen, um sie zu finden. So fiel mir bei einem Blick ins isländische Telefonbuch folgendes auf: Die Leute werden nach ihrem Vornamen alphabetisch aufgelistet, da es in Island keine richtigen Nachnamen gibt. Es herrscht noch ein relativ patriarchalisches System. Der Nachname wird aus dem Vornamen des Vaters beziehungsweise neuerdings auch nach der Mutter gebildet und die Endung »-son« für Söhne beziehungsweise »-dóttir«{30} für Töchter angehängt: beispielsweise heißt Asgeir, der Sohn von Sigurvind, Asgeir Sigurvindsson, seine Schwester Guðrun würde Guðrun Sigurvindsdóttir heißen. Geschwister haben in Island lediglich dann den gleichen Nachnamen, wenn sie beide Jungs oder beide Mädchen sind. 90 Prozent der isländischen Nachnamen werden so gebildet, die restlichen zehn Prozent haben richtige Nachnamen, die noch aus der ersten Besiedelungszeit um das Jahr 900 stammen. Neue richtige Namen werden nicht akzeptiert, d. h. bekommt man die isländische Staatsbürgerschaft, muss man seinen Namen ändern. Ich würde Christoph Jürgenson heißen. Kessel wäre schließlich gestrichen. Fremde Vornamen werden ebenfalls nicht akzeptiert.
Einen weiteren Beweis dafür, dass in Island die Welt noch in Ordnung ist, zeigte die Busfahrt nach Reykjavik. Am Straßenrand wurden Pakete von den Einheimischen abgelegt und unbeaufsichtigt gelassen, ehe unser Busfahrer diese in den Bus lud und am Bestimmungsort wieder ablud. Dies wäre bei unseren Anti-Terror-Maßnahmen sicherlich nicht möglich und würde mehrere Polizeieinsätze nach sich ziehen. In Reykjavik angekommen, durfte ich zunächst an der Wahl zum deutschen Bundestag teilnehmen, da es die Wahlunterlagen bis nach Island geschafft hatten. Reykjavik, die Hauptstadt von Island mit 171.000 Einwohnern kleiner als Mainz, beherbergt etwa zwei Drittel der Bevölkerung Islands. Dementsprechend kam sie mir riesengroß vor und stieß mich etwas ab. Das erste Mal seit Edinburgh befand ich mich wieder in einer Großstadt und roch nun wieder den Duft der Zivilisation in Form von Abgasen. Daher könnte man denken, dass die Stadtgründer mit der Bezeichnung Reykjavik{31} zynischerweise Recht hatten. Sie meinten damals im 10. Jh. allerdings die vielen dampfenden Bäche, die dort ins Meer flossen. Davon ist leider nicht mehr viel übrig geblieben. Breite Straßen, viel Autoverkehr und ein Flugplatz als Mittelpunkt der Innenstadt lassen keinen Platz mehr für dampfende Bäche. Diese sind wahrscheinlich in der Kanalisation verschwunden.
Aber mit der Zeit konnte ich mich doch noch ein wenig mit Reykjavik anfreunden, denn die Stadt hat viele Wanderwege entlang des Meeres, das drei Seiten der Stadt umschließt. Außerdem existiert ein kleiner Sandstrand mit Thermalbad direkt am Ende der Start- und Landebahn des Flugplatzes. Anhand dieser zeigte sich auch wieder, dass Island noch keine Angst vor Terroristen hat. Die Start- und Landebahnen sind lediglich mit einem kleinen Gartenzaun abgegrenzt, da direkt nebenan ein Kinderspielplatz liegt. Der botanische Garten der Stadt ist etwas ganz Besonderes. Hier sind so seltene Gewächse wie Issalat Crispino, Blaðsalat, Rauðkal, Spergilkal, Hvitkal und Hnuðkal zu bewundern. Diese Gewächse heißen auf Deutsch: Eisbergsalat, Kopfsalat, Rotkohl, Broccoli, Weißkohl beziehungsweise Kohlrabi. Bei den hohen Lebensmittelpreisen konnte ich gerade noch der Versuchung widerstehen, mir abends eine kostenlose Rohkost-Platte zusammenzuklauen. Aber an der Tatsache, dass diese Gewächse ausgestellt werden, erkennt man, dass die Isländer wahrlich stolz sind, wenigstens etwas auf dieser Insel anbauen zu können.
Am nächsten Tag verabschiedete sich Island schließlich so wie ich es kennengelernt hatte: Regen, Regen und nochmals Regen. Nach 30 Tagen Reise ohne Flugzeug musste ich nun erstmals fliegen, da es leider nicht möglich ist, von Island ohne Flugzeug westwärts voranzukommen. Ziel meiner nun folgenden fliegerischen Odyssee war die nächste Insel, von der ich meine Reise wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortsetzen konnte. Mit Icelandair flog ich mit einer Boeing 757-200 über den Atlantik in Richtung »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Die hohen Alkoholpreise in Island schlugen sich auch auf den Bordservice nieder. Der Stoff kostete zwischen 2 und 3 Euro. Eine krasse Sparmaßnahme war auch bei den Zeitungen festzustellen – sie wurden am Ende des Flugs wieder eingesammelt.
»Welcome to the United States of America« hieß es bei der Ankunft in Boston mit dem kleinen Nebensatz, dass wir auf unbestimmte Zeit an Bord der Maschine bleiben müssten, da die Einreisebeamten überarbeitet seien. Da flackerte sie wieder auf, meine »unbegrenzte« Hassliebe zu den USA. Kein anderes Land der Welt kann sich so etwas leisten, ohne dass auch nur ein Passagier es wagt aufzumucken. Nach fast einer Stunde des Wartens waren wir endlich erlöst und durften schließlich aussteigen. Eine halbe Stunde später war ich bereits eingereist. Letztendlich war doch alles halb so schlimm. Kurz darauf zeigte sich zum ersten Mal, warum ich die USA trotzdem nicht verdamme: wegen seiner sehr netten und hilfsbereiten Menschen. Mitarbeiter von Travellers Aid riefen sofort in einem Hostel für mich an, um ein Bett für die Nacht klarzumachen, da ich Probleme mit meiner Telefonkarte hatte. Da ich zwischenzeitlich meinen Reiseführer für Kanada leider verloren hatte, musste ich mir einen neuen besorgen. Diesen bekam ich vom Bostoner Hostel geliehen, der dort einfach so herumlag. Auf meiner Weiterreise soll ich ihn einfach wieder vorbeibringen. In Boston machte ich schließlich das erste Mal auf dieser Reise auch diese Entdeckung: bettelnde Menschen, die im Müll nach Essenresten, in Telefonzellen nach Wechselgeld und über U-Bahn Schächten nach Wärme suchen – auch das sind die Vereinigten Staaten von Amerika.
Mein USA-Aufenthalt war aber bereits nach einem Tag beendet. Ich wollte vielmehr meine Reise dort fortsetzen, wo ich mit Bussen, Schiffen und Bahnen wieder starten konnte. Daher flog ich mit Air Canada etwa die Hälfte der Strecke, die ich von Reykjavik bis Boston zurückgelegt hatte, wieder nach Nordosten zurück. Beim Start in Halifax in Richtung Neufundland, dem Ziel meiner fliegerischen Odyssee, machte uns der Pilot auf einen etwas für mich ungewöhnlichen Flug aufmerksam: »Ladies and Gentlemen, wir werden wahrscheinlich mehrere Anflüge brauchen, um in St. John’s zu landen.