Am Myvatn{26} angekommen, besserte sich das Wetter plötzlich innerhalb weniger Stunden. Die Sonne, die ich bereits mit den Franzosen bei deren wieder einmal ausgerufenen Generalstreik verbrüdert sah, schob nun auf einmal Überstunden, schien sie doch nunmehr jeden Tag länger, als es die Gewerkschaften je erlauben würden, also mehr als zehn Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche.
Plattentektonisch betrachtet schrieb ich dieses Kapitel bereits aus Nordamerika, denn in Island reiben sich die eurasische und die nordamerikanische Platte aneinander. Das Resultat ist am Myvatn zu bewundern: Vulkane, Lava-Felder und sehr bizarre Landschaften. Die Lava-Felder sehen einmal aus, wie die abgefrästen Teerplatten des sich im Ausbau befindlichen Mainzer Rings{27}, ein anderes Mal so runzelig wie Elefantenhaut und einmal so unregelmäßig, klumpig wie die Oberfläche eines Krümelkuchens. Bei den Verschiebungen der Felder während eines der häufigen Erdbeben entstanden Spalten, die etwa einen Meter breit und bis zu 20 Meter tief sind. Trotz des guten Wetters war es meist schon sehr kalt. Bei der Besteigung eines Vulkans hatte ich nun auch den ersten Schnee für diesen rein theoretisch noch existierenden Sommer, eher bereits Spätherbst zu nennen. Aber die Landschaft glänzte dafür bei diesem Wetter in herrlichen Farben: pechschwarz die oft bis an den Horizont reichenden Lava-Felder, weißgelb die Schwefelablagerungen, aus denen es oft rauchte und spuckte, hellbraun die Berge, saftig-grün die Wiesen und türkis das Wasser in den Maaren der Vulkane. Das gelb gefärbte Laub der Birken und das sich langsam rostrot färbende Heidekraut ließen den Herbst bereits erahnen. Wälder existieren wegen des Windes und der alles abknabbernden Schafe in Island kaum. Die Bäume sehen auch eher wie große Büsche aus. Eine isländische Weisheit besagt: »Verirrst du dich in einem isländischen Wald, steh’ einfach auf.«
Die Schafe waren mir wirklich unsympathisch. Ich verallgemeinere ungern, doch diese Viecher waren bescheuert. Vor mir rannten sie auch in Island weg, aber auf den Staubstrassen ließen sie sich vom vorbeifahrenden Bus panieren und grasten in aller Ruhe weiter. Leider konnte ich mich nicht so einfach ernähren und war doch auf einige sehr teure Nahrungsmittel angewiesen. Aber die isländische Landwirtschaft ist auch nicht zu beneiden. Am Myvatn versuchte man Kartoffeln anzubauen. Beim Ernten erhielt man schließlich die Kartoffeln in gedünstetem Zustand aus der Erde, wegen des heißen Grundwassers direkt unter der Oberfläche. Mit dem Wasser war es auch so eine Sache. Warmes Wasser kam fast kochend aus dem Hahn, da es sicher direkt am nächsten Geysir abgezapft wurde. Dafür stank es nach faulen Eiern, und das Duschen mit dem penetranten Geruch in der Nase bereitete folglich kein Vergnügen.
Für die manchmal eher unangenehmen Bedingungen in Island wurde ich aber nachts bei klarem Himmel entschädigt. Wie in einem Science-Fiction-Film leuchtete plötzlich ein Teil des Himmels grünlich weiß. Wie ein Vorhang bewegte sich dieses Licht am Firmament nach allen Seiten hinunter, und es stellte sich eine wirklich gespenstische Stimmung ein. Verantwortlich für diese Nordlichter sind Ströme geladener Partikel, so genannte »Sonnenwinde«, die durch das Magnetfeld der Erde zu den magnetischen Polen geleitet beziehungsweise von diesen angezogen werden. Das Zusammentreffen mit Elektronen von Stickstoff- und Sauerstoffatomen in der etwa 160 Kilometer hohen Atmosphärenschicht setzt Energien frei, die das Nordlicht entstehen lassen. Ich konnte nachts in aller Ruhe auf der Hauptstrasse liegen und dieses Schauspiel genießen, ohne überfahren zu werden, denn nach Sonnenuntergang passierte in Islands Hinterland überhaupt nichts mehr. So waren diese Abende mit einem langsam gefrierenden Leicht-Bier einmal ein anderes Freizeitvergnügen, als in der Kneipe zu sitzen und Bierchen zu zischen.
An einem der folgenden Tage erreichte ich den wahrscheinlich nördlichsten Punkt meiner Reise, die Insel Grimsey, die genau auf dem Polarkreis (66 Grad Nord 18 Grad West) liegt. Mit einer kleinen Fähre fuhr ich durch einen Fjord hinaus ins arktische Meer. Das Beladen der Fähre war besonders eindrucksvoll. Ein Pferdekarren mit zwei Vierbeinern und zwei Autos wurden mit einem Kran vom Kai auf die Ladefläche gehievt. Dies war Millimeterarbeit, die aber gut ausging. Danach tuckerten wir hinaus ins Polarmeer immer weiter nach Norden. Auf Grimsey leben 98 Leute, die vielleicht aufgrund der abgeschiedenen Lage etwas befremdlich auf mich als Mitteleuropäer wirkten. Das sagenhafte Straßennetz von ca. einem Kilometer nutzten etwa 40 Autos. Mit riesigen Jeeps wurde aus Langeweile das gesamte Straßennetz hoch und runter gedonnert, sodass mir die Ohren dröhnten. Dass die vielen Vögel, die dort ebenfalls leben, noch nicht geflüchtet sind, grenzt an ein Wunder. Grimsey sieht etwa wie ein Geodreieck aus. Der Südwesten ist flach. Innerhalb eines Kilometers steigt die Insel auf ca. 130 Meter an. Eine Steilküste bildet das abrupte Ende der Insel. Diese ist die Heimat für tausende Vögel, die dort ideale Voraussetzungen für die Errichtung von Etagenwohnungen finden. Leider waren die meisten Bewohner aus ihrer Sommerresidenz bereits ausgezogen, sodass ich die dort im Sommer lebenden Papageientaucher nicht mehr sehen konnte.
Europa ade – Willkommen in der »Neuen Welt«
Etappe: Von Akureyri, Ísland 66° Nord 18° West (GMT+0), nach St. John’s NF, Canada 48° Nord 53° West (GMT-2:30): 5.909 km – Total 10.977 km
St. John’s, 18. September 2002
Aufgrund des für isländische Verhältnisse tatsächlich sagenhaften Wetters machte ich einen ganzen Tag Pause an einem Wasserfall, um einmal richtig zu entspannen. Denn mittlerweile reiste ich bereits einen Monat durch Europas Nordwesten und erlebe permanent neue, meist nette Sachen. Um das Erlebte zu verarbeiten, kam der Goðdafoss{28} wie gerufen. Der Name geht auf den Alþing im Jahre 1000 zurück. Dort wurde entschieden, dass Island das Christentum annimmt. Einer der regionalen Führer schmiss daraufhin auf dem Heimweg vom Alþing alle heidnischen Götterbilder den Wasserfall hinunter.
Nach vier Wochen ändere ich anscheinend als Reisender so langsam meine Wertvorstellungen. Für mich stellte der Campingplatz am Goðdafoss, den ich nur mit Schafen teilen musste, das pure Paradies dar, da mir die folgenden Luxusartikel zur Verfügung standen: beheiztes Bad, in dem ich mich aufhalten konnte, heißes Wasser aus dem Wasserhahn, mit dem ich mir löslichen Kaffee zapfen konnte, eine Steckdose für meinen Weltempfänger, mit dem ich deutsches Radio empfangen und gute Musik hören konnte, einen Handtrockner, der zum Wäsche- und Geschirrtrockner umfunktioniert wurde. Das einzige Manko waren ... natürlich die Schafe, die mich morgens um sechs weckten, da sie mein Zelt abknabberten. Dafür hatte ich den Wasserfall fast für mich alleine. Aber am Ende war die Einsamkeit doch etwas beklemmend, schließlich war ich abhängig vom einmal täglich verkehrenden Bus. Ansonsten war nicht viel los auf dieser Ringstrasse durch Island. Aber auf isländische Verkehrsmittel war letztendlich immer Verlass. Pünktlich holte mich der Bus wieder ab und brachte mich nach Akureyri, in die mit 15.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Islands.
Da in ganz Akureyri wegen einer Konferenz kein Zimmer mehr frei war, musste ich nun zum ersten Mal auf den Ruf vertrauen, der Island anhängt: das sicherste Land der Welt zu sein. Schließlich übernachtete ich auf dem eigentlich geschlossenen Campingplatz. Doch was heißt geschlossen, wenn dieser Campingplatz nach allen vier Seiten hin offen ist und sowieso jeder quer über den Platz rennt. So campten ich und ein paar andere Backpacker{29} einfach mitten in der Stadt, ohne eine Krone dafür zu berappen. Am folgenden Tag ließen wir notgedrungen unsere Sachen im Zelt, da wir unseren Kram nicht die ganze Zeit mitschleppen wollten. Tatsächlich rührte niemand unser Zeug an, und so übernachtete ich ohne Probleme gratis drei Nächte mitten in der Stadt.
Von Akureyri konnte ich wunderschöne Wanderungen in die Umgebung unternehmen. Dies stellten anscheinend auch Autoren eines Wanderführers über Island fest. Doch die Wegbeschreibung erinnerte mich während des Aufstiegs zum Sulúr eher an das Orakel von Delphi, denn Himmelsrichtungen wurden gänzlich weggelassen, um ja keine Details zu verraten. Vielmehr wurde von Bächen und Zäunen gesprochen, die es zu überwinden galt. Die Bemerkung, dass diese Zäune