Aloronice. Judith Weber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Weber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844232790
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Haus, oder gehen wir Rein?"

      Claude stützte seine Hände auf den Knien ab und erhob sich zögerlich, „gehen wir erst mal nur ins Haus!"

      Im Haus war alles ruhig und dunkel, kein Wunder, es war ja auch schon weit nach Mitternacht. Normalerweise würde man erwarten, dass es auch deshalb so ruhig war, weil alles schlief, aber hier in diesem Haus war alles anders.

      Die Ruhe und die Dunkelheit rührten schlichtweg daher, dass sich niemand im Haus befand.

      Während sie durch den langen Flur zur Küche gingen, hörten sie keinen Laut, eine winzig kleine Lampe am Ende des Flurs, auf einem Tisch unterhalb der Garderobe beleuchtete spärlich die Szenerie.

      Links und rechts gingen Türen vom Flur ab, sie standen alle offen. Das erste Zimmer, das zur Straße hinausging, war das sogenannte Wohnzimmer, auch hier nur ein spärliches Licht, welches durch das Fenster von der Straßenlampe herein schien. Ein altes Sofa und eine Anrichte, über der ein Bild von einem gänzlich unbekannten Maler hing -ein Stillleben mit Obstschale und Wildbret - vermutlich würde der Maler auch unbekannt bleiben - dazu noch ein Lehnstuhl und ein Couchtisch, das war alles in diesem Zimmer.

      Ein paar Zeitungen lagen auf dem Couchtisch, aber ansonsten wirkte das Zimmer wie geleckt, kein Staub, auch keinerlei persönliche Gegenstände waren zu erkennen. Es sah aus wie ein Raum, der nur benutzt wurde, wenn Besucher kamen und ansonsten von der Hausfrau zwar täglich gesäubert, aber dann sofort wieder verschlossen wurde.

      Auch die zwei anderen Zimmer die folgten, wirkten ähnlich unbewohnt. Das eine wohl eine Art Gästezimmer mit einem Bett und einem Kleiderschrank, dazu ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Dann kam das Badezimmer, eine riesige alte Messingbadewanne stand mitten im Raum, von der Decke darüber hing ein großer metallener Duschkopf, ein großes Porzellanwaschbecken links an der Wand, keine Toilette. Die befand sich hinter der letzten Tür auf der linken Seite. Die Tür direkt am Ende des Flurs führte in die Küche.

      Richard und Claude betraten nacheinander die Küche.

      „Hey, es riecht nach Essen", Richard schnüffelte vernehmlich.

      Ein schwacher Duft von Knoblauch und ausgelassenem Speck lag in der Luft.

      „Ja, merkwürdig", Claude schaute verwundert zum Herd. Keine Spur mehr von irgendwelchen Resten der Mahlzeit. Keine Pfanne, kein Teller, nicht einmal eine Gabel, die bezeugen würde, dass hier noch vor kurzem jemand etwas zu sich genommen hatte. Auch sonst war die Küche sehr sauber. Sie war, wie auch der Rest des Hauses weit entfernt davon modern zu sein, allerdings war sie zweckmäßig eingerichtet und es gab sogar eine Mikrowelle. Von der Küche aus führte eine Tür hinaus in den Garten, der jetzt nur als schwarzer Fleck durch die Glastür zu erahnen war.

      „Komm", sagte Claude und man spürte deutlich die Erleichterung in seiner Stimme, „es ist keiner mehr hier. Wer immer hier war, ist schon wieder Rein."

      „Mmmmmh, ich glaube auch", Richard grummelte ein wenig vor sich hin, „ich dachte, wir können noch eine Kleinigkeit zu Essen abstauben bevor wir Rein gehen." Richard war furchtbar hungrig und das machte ihn ein wenig unleidlich.

      Er machte den Kühlschrank auf und wieder fing er an zu grummeln.

      „Was ist?" Claude schaute auf, „nix mehr da?"

      „Doch", Richard langte in den Kühlschrank und zog eine verschrumpelte Karotte hervor. „Das da!"

      „Na dann, guten Appetit!"

      „Ha, ha, sehr witzig. Vielleicht sollte ich mal von dir abbeißen du Scherzkeks!"

      „Nur zu", Claude setzte sich an den Küchentisch, während Richard in den Schränken und Schubladen weiterhin nach etwas Essbarem suchte.

      „Wie kann man nur ewig so hungrig sein?"

      Claude stützte sich mit seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte seinen Kopf in die Hände.

      Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, immer wieder tauchte ihr Bild vor ihm auf. Wie sie dort gestanden hatte, am Meer, nur Zentimeter von ihm entfernt, ihre Augen, die die Farbe des Meeres bei Sonnenlicht hatten. Noch nie hatte er eine derartige Anziehungskraft gespürt, noch jetzt, nach über einer Stunde, glaubte er das Kribbeln auf seiner Haut zu spüren, welches ihr bloßer Blick bei ihm verursacht hatte.

      Er musste dieses Bild los werden, dieses Kribbeln verscheuchen, jeden Gedanken an sie aus seinem Kopf bekommen. Das war wichtig. Keiner durfte etwas merken, schon gar nicht sein Großvater. Es würde schwierig werden, das war ihm klar. Auf Richard konnte er sich verlassen, der würde nichts verraten. Richard war sein bester und verlässlichster Freund, schon immer gewesen, seit er sich erinnern konnte waren sie ein Team, schon seit Kindergartenzeiten. Allerdings war ihm damals noch nicht klar gewesen, dass Richard anders war als andere Kinder, dass auch er anders war.

      Claude lebte bei seinem Großvater Laurent, hier in diesem Haus. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt ebenso wenig wie seine Großmutter. Sie alle waren schon lange tot. Er wusste auch nicht viel von ihnen, es gab keinerlei persönliche Erinnerungsstücke, nicht einmal Fotos. Früher, als er noch ein kleiner Junge war, hatte er seinen Großvater nach ihnen gefragt, eine wirkliche Antwort hatte er damals nicht bekommen. Seine Eltern wären bei einem Autounfall unmittelbar nach seiner Geburt ums Leben gekommen und seine Großmutter sei schon lange vor seiner Geburt gestorben. Da sein Großvater scheinbar über dieses Thema nicht weiter mit ihm sprechen wollte und er ihn auch noch nie mit einem derart traurigen Gesichtsausdruck erlebt hatte, hatte er nach diesem Tag nie wieder nach seinen Eltern gefragt.

      Wozu auch, sie waren tot und konnten ihm in seinem Leben nicht mehr beistehen. Sein Großvater hatte ihn durch all die Jahre seiner Kindheit geführt. Auch wenn sein Großvater immer wieder für längere Zeit unterwegs sein musste und ihn dann in der Obhut eines Kindermädchens gelassen hatte, war Laurent doch seine wichtigste Bezugsperson gewesen. Claude hatte geglaubt ein ganz normaler Junge zu sein, bis zu jenem denkwürdigen Tag, der gleichzeitig sein achtzehnter Geburtstag war.

      Bis dahin hatte er hier, in diesem Haus gewohnt, in seinem Jungenzimmer, ein Stockwerk höher. Noch heute war es unverändert, mit Postern von Rockstars und Rennwagen an der Wand.

      Richard ging in diesem Hause ein und aus und so manche Nacht hatten sie zusammen in seinem Zimmer zusammengehockt, Gitarre gespielt und sich über alles unterhalten, was zu jener Zeit unglaublich wichtig schien. Waren es anfangs noch Autos und Musik gewesen, manchmal auch die Schule, kamen später die Mädchengeschichten dazu. Von den ersten zaghaften Versuchen, bis zu den ersten sexuellen Erfahrungen, kein Thema war zu peinlich, als dass er es nicht mit Richard besprechen konnte.

      Das war bis heute so geblieben, nur jetzt, jetzt gerade konnte er mit Richard nicht so offen sprechen, wie er es sich gewünscht hätte.

      Bis er achtzehn wurde, war dieses Haus sein einziges Zuhause gewesen, hier hatte er gelebt, ausschließlich, von ein paar Reisen einmal abgesehen. Hier in dieser Stadt war er zur Schule gegangen, hatte seinen Abschluss gemacht und alle die Dinge getan, die ein Junge bis dahin eben so tut.

      Bis zu seinem Geburtstag am 15. Mai.

      An seinem achtzehnten Geburtstag war er morgens aufgewacht, Richard hatte wieder mal bei ihm übernachtet, er hörte ihn leise neben sich schnarchen, während er sich mit dem Gedanken in seinem Bett aufsetzte, dass jetzt das Leben beginnen würde. Wow, er war jetzt achtzehn, endlich, er konnte jetzt seinen Führerschein machen, selber entscheiden wie lange er weg blieb und wohin er ging. Das Leben, das vor ihm lag, erschien ihm wie eine große bunte Welt, die es zu erobern galt.

      Er hatte seinen Großvater unten in der Küche rumoren hören und gegrinst, als er sich vorstellte, wie dieser jetzt seinen Geburtstagstisch zum

      Frühstück deckte. Im Haus duftete es schon nach Eiern mit Speck und nach Kaffee.

      Eigentlich hatte er Richard wecken wollen, entschied sich dann aber anders und ging barfuß und noch ungekämmt zu seinem Großvater nach unten.

      Claude wurde jäh in seinen Erinnerungen unterbrochen, als Richard mit einem Aufschrei der Begeisterung eine Dose Ravioli aus der hintersten Ecke eines Küchenschrankes