Aloronice. Judith Weber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Weber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844232790
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dachte Marie bekümmert „ wir alle sollten mehr Ruhe und Zeit haben."

      Die Aussichten waren gut. In ein paar Monaten würden sie alle mehr Zeit bekommen sich um sich selbst zu kümmern. Hannah würde für das nächste Schuljahr nach Amerika gehen und dort ein Austauschjahr machen und Tessa? Tessa wollte ebenfalls für ein Jahr ins Ausland. Gemeinsam mit ihrer allerbesten Freundin wollte sie nach Spanien zu deren Großeltern reisen. Die Familie würde sich trennen, zumindest für eine gewisse Zeit. Marie war sich sicher, dass es für alle eine gute Entscheidung gewesen war, dennoch blickte sie nicht ohne Sorge in die nächste Zukunft. Was würde in diesem Jahr mit ihren Babys passieren? Nie waren sie länger als ein, zwei Wochen getrennt gewesen. Immer ein Team, aber da war ja auch noch Tom an ihrer Seite, ruhig und ausgeglichen, immer wieder bereit, die Wogen der Weiblichkeit im Hause zu glätten, er fehlte so sehr! So wie es im Moment lief, war es aber auch nicht auszuhalten. Die Mädchen nur noch in Zank und Streit, sie selbst am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte und Robert immer mittendrin, gleichbleibend ruhig und ausgeglichen. Blass war er in letzter Zeit, „ausgezehrt" kam ihr in den Sinn. Es war gut, dass auch er einmal zur Ruhe kam.

      Maries Blick fiel auf ihren Sohn, der Tessa vom Schoß geschoben hatte, aufstand, zur Tür ging und seine Jacke vom Haken schnappte.

      „Ich bin dann mal weg, Tessa nehme ich mit zu Mike! Sie kann auch ein wenig Mathenachhilfe gebrauchen."

      Die Haustür ging auf und wieder zu, es war ruhig im Haus. Hannah hatte sich in ihr Zimmer verkrochen, Marie hörte sie mit ihrer Freundin Lilly chatten. Hannah war also mindestens die nächsten zwei Stunden beschäftigt.

      Marie griff in ihre Tasche, nahm das Telefon zur Hand und drückte die Wahlwiederholung. Es tutete zwei, drei Mal, dann war Thea schon am anderen Ende der Leitung zu hören:

      „Na Krieg beendet?"

      „Vorrübergehender Waffenstillstand, wenn du mich fragst, aber wo waren wir stehen geblieben?"

      „Ich glaube bei der Affäre, die du mir vermasselt hast."

      „Vor der ich dich beschützt habe!"

      „Meinetwegen auch das, und dann" Thea steigerte die Spannung mit einer kurzen Pause „ dann im Jahr danach, waren wir in Frankreich!"

      Marie seufzte „Ja, dann waren wir in Frankreich!"

      Gleich am zweiten Abend hatten sie Claude und seinen Freund Richard kennengelernt. Anfang zwanzig, wie sie selbst. Es war einer dieser warmen, lauen Sommerabende und Thea und sie saßen nach dem Abendessen noch auf einer Steinmauer an der Strandpromenade und beobachteten die vorbei schlendernden Menschen. Sie wusste noch, dass es eine diebische Freude machte über die ihnen gänzlich unbekannten Leute zu lästern und sie hatten ein Spiel entwickelt, das hieß 'sage mir aus welchem Land die Leute kommen, bevor du ihre Sprache hörst'. Damals rauchte sie noch, Thea hat irgendwie nie geraucht, nun Marie rauchte und blies den Rauch in die warme Luft, während sie beide versuchten, zu raten woher wohl das alte Ehepaar, er mit Sportsocken und Sandalen und sie im einteiligen Flatterkleid, kommen würde. Thea war für Deutschland, aber Marie beharrte auf den USA. Beide lauschten auf die ersten Wortfetzen, das Paar kam nur langsam näher.

      Heute würde sie es nicht mehr beschwören können, aber sie glaubte sich zu erinnern, dass in diesem Moment eine kühlere Brise über das Meer zu ihnen wehte und eine zarte Gänsehaut auf ihren Armen verursachte. Hätte sie einen Sinn fürs Übersinnliche gehabt, wäre es wie eine Vorahnung gewesen.

      Im gleichen Moment sprang ein Schatten über die Mauer, sehr elegant, sehr sportlich, katzenhaft!

      Sie und Thea zuckten zusammen, als so plötzlich eine Gestalt vor ihnen auftauchte.

      Marie sog scharf die Luft ein und ihr entfuhr ein kleiner, kurzer Atemstoß. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie erfasste, dass es ein junger Mann war, der sich jetzt vor sie hinstellte, ein keckes Grinsen auf dem Gesicht.

      Er schien sie ansprechen zu wollen, doch sein schon halb geöffneter Mund blieb wortlos und er starrte sie dabei ebenso verstört an, wie sie ihn. Das Ehepaar schlenderte vorbei, es waren Deutsche!

      Wow, was für Augen! Dunkel und umrahmt von ebenso dunklen Wimpern. Er sagte noch immer kein Wort. Marie starrte ihn an und nahm dabei seine ganze Erscheinung in sich auf. Was sie sah gefiel ihr überaus gut:

      Er hatte dunkles, welliges Haar. Es stand ihm ein wenig wirr vom Kopf ab, es sah aus, als wäre er gerade schnell gerannt, irgendwie verlieh ihm das ein jungenhaftes Aussehen. Seine Nase war ausgeprägt und unterstrich mit ihrer Kantigkeit vorteilhaft seine hohen Wangenknochen. Sein Mund war, soweit sie das im geöffneten Zustand erkennen konnte perfekt. Er hatte diese seltene Mischung aus Sinnlichkeit und Entschlossenheit, im Moment war das allerdings mehr zu erahnen, als genau zu erkennen. Sein

      Kinn passte absolut zu seiner Nase und er sah einfach gut aus. „Zum Niederknien", dachte Marie.

      Während sie noch völlig in die Betrachtung dieses faszinierenden Gesichtes vertieft war, kam ein weiterer junger Mann dazu und stellte sich zu ihnen. Er schien sein Freund zu sein, denn er war im selben Alter und es war klar zu erkennen, dass sie sich kannten. Der zweite junge Mann war ein richtiger Sonnyboy, er hatte einen rötlich schimmernden Lockenkopf und einen vollen, breiten Mund, der von Anfang an zu lachen schien. Ein paar Sommersprossen auf seinen gebräunten Unterarmen unterstrichen die ebenso rötlichen Haare auf seinen Armen. Er war nicht ganz so sportlich über die Mauer gesprungen, sein Auftritt war weniger eindrucksvoll gewesen, dafür war er aber wenigstens in der Lage zu sprechen. Er grüßte sie und fragte, ob sie noch auf jemanden warten würden, oder ob sie ihnen Gesellschaft leisten dürften. Thea machte eine einladende Geste in Richtung Steinmauer neben sich. Die beiden begannen schon eine kleine Unterhaltung, während der andere junge Mann immer noch stumm vor ihnen stand. Irgendwann schloss sein Mund sich dann doch und er schluckte ein paar Mal, bevor er Marie nach mehrfachem Räuspern schließlich ansprach.

      „Was hat er gesagt?" fragte Marie in Richtung Thea, ohne jedoch den Blick von ihm abzuwenden, sie konnte damals kein Wort Französisch.

      „Ob du Feuer für ihn hast!"

      Wortlos gab Marie ihm ihr Feuerzeug und er nahm es, hielt es in der Hand. Kein Wort kam über ihre Lippen, eine Ewigkeit, so schien es Marie, starrten sie sich wortlos an und dann begannen sie zeitgleich zu sprechen, die typischen Fragen. Gestelzt, befangen und wenig originell. Erst er auf Französisch, sie auf Deutsch, dann auf Englisch und dann mit Händen und Füßen.

      Sein Name war Claude. Claude setzte sich auf die Steinmauer, neben Marie und versuchte sein Schulenglisch herauszukramen, sein Freund

      Richard hatte es da besser getroffen, er konnte sich mit Thea wenigstens ein wenig in seiner Muttersprache verständigen.

      Claude war groß, sehr groß für einen Franzosen. Bestimmt einen Meter und neunzig.

      Ob sie sich die Stadt anschauen wollten, woher sie kämen, wie ihre Namen wären, und dabei dachte Marie eigentlich nur die ganze Zeit „was für eine Stimme!"

      Dunkel und melodisch.

      Leider erwies sich die inhaltliche Seite der Unterhaltung als weitaus unbefriedigender, denn sein Englisch war eine echte Katastrophe.

      Es schien völlig natürlich, dass sie schon nach kurzer Zeit Hand in Hand an der Promenade entlang schlenderten und dabei irgendwann das anstrengende Gespräch einstellten. Thea und Richard kamen hinterher, immer noch in eine scheinbar angeregte Unterhaltung vertieft.

      Bisher hatte er das Feuerzeug noch nicht benutzt.

      Es war unglaublich! Sie wäre an diesem Abend mit ihm bis zum Ende der Stadt, der Welt weitergelaufen, schweigend.

      Apropos schweigend, ihr fiel auf, dass Thea und ihr Begleiter nicht mehr zu hören waren. Marie blickte sich um und sah die beiden in weiterer Entfernung auf einer Bank sitzen, sich immer noch lebhaft unterhaltend. „Wollen wir uns auch setzen?" immerhin, das hatte sie verstanden. Langsam fielen auch Claude wieder mehr englische Vokabeln aus der Schulzeit ein.

      Sie wollte sich auf die Mauer setzen, die die Promenade vom Strand trennte, aber Claude zog