Die Pauli Gruppe expandierte stark, Aktionäre und Aufsichtsrat sprachen voller Hochachtung von den Erfolgen des Vorstands. Nur die Württemberger Leben signalisierte, dass sie sich aus dem Engagement zurückziehen wolle, weil sie sich nicht auf Dauer als industrieller Finanzpartner verstehen wollte. Es sei aber keine Eile geboten, man bäte den Vorstand, bei der Suche nach einem geeigneten Partner behilflich zu sein, wolle sich aber auch selbst darum bemühen. Erbracht verkaufte nach und nach seine Aktien. Er hatte als wachsamer Partner die ersten Krankheitssymptome des Patienten erkannt, wenn auch nur intuitiv.
10.
Das Gasthaus am See
Als ich erwachte, lag mein Kopf im Schoß der Kellnerin. Sie kniete neben mir und hielt meinen Kopf in ihren Händen. Sie hatte ein Notarzt gerufen, der mit einem Krankenwagen gekommen war und nun neben mir stand und sich über mich beugte. Ich versuchte mich aufzurichten, es gelang mit Mühe.
„Was ist los?“ fragte ich ihn.
„Sie sind ohnmächtig geworden. Gott sei Dank war die Frau gleich bei Ihnen, als Sie auf den Boden gefallen sind. Wir werden Sie ins nächst gelegenen Krankenhaus bringen.“
Ich erwiderte: „Das ist doch nicht nötig, es geht schon wieder.“
„Es ist besser für Sie“, beharrte er freundlich aber bestimmt.
Ich wollte noch etwas entgegnen, war aber viel zu schwach und war auch irgendwie zufrieden, dass sich jemand um mich kümmerte.
„Können Sie aufstehen?“ fragte der Arzt.
„Es geht vielleicht, ich will es versuchen.“
Er stützte mich gemeinsam mit der Kellnerin, die noch immer bei mir stand, als ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Sie legten mich behutsam auf eine Trage, der Fahrer schnallte mich fest. Die Kellnerin blieb in meiner Nähe. Es war mir recht.
Der Krankenwagen brachte mich mit Blaulicht und unter dem Geheul des Martinshorns ins nahe gelegene Unfallkrankenhaus, nur ein paar Minuten entfernt. Wie oft hatte ich einen Krankenwagen vorbeifahren gesehen und nie darüber nachgedacht, was sich darinnen abspielte. Jetzt lag ich selbst darinnen, hilflos auf andere Menschen angewiesen. Als der Wagen hielt, fühlte ich erneut die herannahende Ohnmacht.
Bevor meine Gedanken schwanden, erschien ein Bild aus Japan vor meinem Auge: Eine Frau beugte sich freundlich zu mir und reichte mir die Hand. Sie hatte lange schwarze Haare und trug ein rotes Kleid. Sie war wunderschön. Sie erschien mir wie ein Engel aus Kindertagen, die goldgeschmückt am Weihnachtsbaum hingen und die auch in dem Buch für Weihnachtslieder abgebildet waren. Auch sie waren schön und sangen himmlische Lieder. Und sie schützten die Menschen vor Unheil, so hatte ich es gelernt. Und mit den Erinnerungen an meine Kindertage schwanden mir die Sinne.
Geschäftsreise nach Tokyo
Der Flug von Frankfurt über London nach Tokio war ermüdend lang, die Beine wurden schwer, die Wirtschaftswoche und die Zeitungen hatte Beyer schnell gelesen. Die aktuellen politischen Berichte konzentrierten sich immer stärker auf die Vorgänge hinter dem ‘Eisernen Vorhang‘. Einigen Familien mit kleinen Kindern war die Ausreise über Ungarn nach Österreich gestattet worden, für die Verbliebenen blieben die sanitären und sonstigen Verhältnisse in den überfüllten Botschaften katastrophal.
Einzelschicksale von Familien, die im Westen angekommen waren, wurden in breiter Aufmachung geschildert. Besonders die Geschichte einer Familie hatte Beyer tief bewegt: Sie hatten schon Mitte der 80er Jahre versucht, illegal mit Hilfe eines Heißluftballons über die Grenze zu fliehen und waren bei der Vorbereitung ihrer Flucht von Nachbarn angezeigt worden. Sie waren dafür für zwei Jahre in Bautzen ins Gefängnis geworfen worden. Der Mann hatte anschließend seinen Beruf als Ingenieur aufgeben müssen und hatte als Hilfskoch im Schlosshotel Cecilienhof bei Potsdam für die oberen Parteiführer und deren Gäste Kartoffeln schälen müssen. Jetzt waren sie endlich in die Freiheit gelangt und von einer ihnen völlig fremden Familie freundlich aufgenommen worden. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung war vorbildlich: Spontane Spendenaktionen erbrachten einen ansehnlichen Geldbetrag und viele Güter des täglichen Bedarfs. Die Menschen wurden aufrichtig bedauert, und die Anteilnahme an den ausgestandenen Ängsten der Flüchtlinge war groß.
Die Regierung der ‘DDR‘ kam immer stärker unter Druck. Was sollte geschehen? Kanzler Helmut Kohl suchte Kontakt zu Michail Gorbatschow. Es lag eine große Spannung in der Luft. Beyer fragte sich besorgt nach dem Ausgang der menschlichen Tragödie und hoffte, es würde nicht zu Konflikten zwischen den Westmächten und der Sowjetunion kommen. Allein auf deutschem Boden waren etwa fünfhunderttausend Sowjetsoldaten stationiert. In den anderen grenznahen Ländern kam etwa die gleiche Anzahl hinzu. Sie stellten eine erhebliche Bedrohung dar. Es galt vor allem Ruhe und Besonnenheit zu bewahren, jede Art der Provokation zu unterlassen. Ein unbedachter Schuss eines Grenzers, konnte alles zerstören und einen Konflikt heraufbeschwören, von dem niemand wusste, wie er zu beenden wäre. Die Spannung wuchs mit jedem Tag. Das Flüchtlingsproblem musste irgendwie gelöst werden, aber das viel größere Problem war die Frage nach der künftigen Weiterentwicklung der beiden Staaten auf deutschem Boden, denn letztlich handelte es sich um eine Nation mit gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Kultur, aber einer seit über 40 Jahren getrennten politischen Entwicklung.
Beyer versuchte seiner wachsenden inneren Unruhe Herr zu werden und bereitete sich auf Japan vor. Er hatte eine kurz gefasste Broschüre über das Technologie-Management in Japan von dem Kanders-Ressource-Center erhalten, darin hieß es: ‚In Japan werden neue Prinzipien schnell in Produkte und Verfahren umgesetzt. Mit Erreichen von industriellen Spitzenplätzen ist in Japan eine hundertjährige Aufholphase abgeschlossen. Nicht die Technologiebasis wird in Japan als entscheidend angesehen, sondern das Technologie-Management. Dabei steht das Erreichen einer hohen Flexibilität im Vordergrund. Eine besondere Stärke liegt in der Form des systematischen Sammelns und Auswertens von Informationen. Zunächst wird versucht, Bestehendes zu assimilieren und dann erst in einem zweiten Schritt eine eigene schöpferische Leistung zu realisieren. Das japanische Management versucht dabei nicht, die letzten technischen Möglichkeiten auszunutzen. Die Verbindung neuer Technologien mit dem bestehenden System wird als sehr viel wichtiger angesehen. Deshalb schenkt das japanische Management im Rahmen traditioneller japanischer Management-Prinzipien wie lebenslange Beschäftigungsgarantie und innerbetriebliche Weiterbildung, Senioritätsprinzip, hohe horizontale Flexibilität innerhalb einer Unternehmung und konsensorientierte Entscheidungsfindung den organisatorischen und sozialen Aspekten in Verbindung mit der Einführung und dem Einsatz moderner Informationstechnik sehr viel Bedeutung.‘
„Was möchten Sie zum Essen haben?“ fragte die Stewardess, als sie die Reiseflughöhe erreicht hatten. „Was darf ich Ihnen zum Trinken servieren?“
„Ich nehme Geflügel mit Reis und einen Weißwein dazu, haben Sie noch den Frankenwein?“
„Ja, ich bringe ihn gleich.“
„Weiter las er in der Broschüre: ‚Die japanischen Unternehmen liefern sich gegenseitig einen harten Wettbewerb. Es besteht aber auf breiter Basis eine Bereitschaft zur Abstimmung im Bereich der Technologie. Der Staat übernimmt dabei eine wesentliche Rolle. Überbetriebliche Kommunikationsnetze nehmen in der japanischen Wirtschaft eine immer stärkere Rolle ein. Beim Zusammenwirken großer Unternehmen und ihren Zulieferern nehmen die großen Unternehmen die Kontrolle über das Daten- und Informationssystem und die Technologie wahr. Dabei spielt die Kommunikationstechnik eine so starke Rolle, dass häufig von ‚virtuell integrierten Unternehmungen‘ gesprochen wird. Eine Liberalisierung des Post- und Fernmeldewesens, wie sie in Europa zurzeit diskutiert wird, ist in Japan längst Realität.‘
Beyer wurde am