»Phenprocoumon - besser bekannt als Marcumar. Und das erklärt uns auch das Nasenbluten. Sie können Ihre Alpträume wieder einpacken, Asbeck: kein hämolytisches Fieber, stattdessen wahrscheinlich Überdosierung von Gerinnungshemmern. Er hätt besser ab und zu mal bei mir vorbeischauen und seinen Quick-Wert bestimmen lassen sollen!«
Auch hier kannte sich der ehemalige Ordnungsamtler, der in Wahrheit ehemaliger Polizeioberkommissar war, aus. »Meine Oma hat auch Marcumar nehmen müssen, die ist alle zwei Wochen zum Doktor gegangen wegen des Quick-Wertes, ob die Blutgerinnung noch stimmt. Ist er tatsächlich nie bei Ihnen gewesen deswegen?«
Der Arzt zuckte die Schultern. »Misstrauen gegenüber fremden Ärzten, sowas haben wir öfter. Kostet manchmal Menschenleben, aber ich kann's nicht ändern.«
»Ihr wievielter Toter ist das denn?«
»Hab längst aufgehört zu zählen. Aber ich bin ja auch schon auf dem Kahn hier, seit er vom Stapel gelaufen ist.«
Das war vor ungefähr fünf Jahren gewesen. Das Schiff war neu und vom Feinsten, zumindest auf den Passagierdecks. »Hätt ich nicht gedacht«, wunderte Adam sich, »dass auf Schiffen so viel gestorben wird. - Und wie geht's jetzt weiter?«
»Wir warten, bis die ganze Meute beim Futtern ist, dann bringen wir ihn hinunter auf Deck eins zum Leichenkühlraum. Und Sie machen sich besser schon mal Gedanken über ein paar salbungsvolle Worte für seine Lieben daheim, das bleibt nämlich garantiert an Ihnen hängen, weil der Kapitän sowas immer delegiert.«
»Einen Moment, ich will mich noch ein wenig umschauen.«
»Wozu das denn?« Auf einmal schien der Doktor es eilig zu haben.
»Wenn ich doch die Angehörigen benachrichtigen muss - da möcht ich wenigstens ansatzweise wissen, was mich erwartet. Zumindest die Muttersprache von dem armen Kerl da sollte ich noch rauskriegen.«
Schulterzuckend ließ sich der Bordarzt zu Füßen des Toten auf die Koje fallen. Der Ebola-Verdacht war ja vom Tisch.
Adam Asbeck schaute in ein paar Schränke und Schubladen und machte sich Notizen. Im Schreibtisch fand er den Reisepass des Verblichenen, der ihn - wie auch seine Bordkarte - als Martynas Rhesa aus Litauen kenntlich machte. »Ich nehme das hier in Verwahrung, Doktor. Vorschriftsgemäß.«
»Tun Sie das«, erwiderte der Arzt gelassen, vielleicht gelangweilt.
Ja, schon recht, dachte Adam, zeig du mir nur, dass ich hier das Greenhorn bin!
Aber besser ein Neuling im Sicherheitsdienst auf einem Kreuzfahrtschiff - als ein toter Polizist in Hallerbach. Dort, wo die Russenmafia ihm Blutrache geschworen hätte, wäre er nicht angeblich in der Donau ertrunken, nachdem er den Mann ans Messer geliefert hatte, den die Presse seither als den »Paten vom Bayerwald« titulierte. Karl Holzinger hatte seinen eigenen Selbstmord inszenieren müssen, um als Adam Asbeck noch einmal ganz von vorn anzufangen. Konnte es für ein solches Vorhaben einen passenderen Vornamen geben als eben - Adam? Und dieser Name war ihm tatsächlich zugeflogen wie eine Eingebung von ganz oben.
Sobald sein Entschluss feststand, sich abzusetzen und damit sein Leben zu retten, hatte er im Internet gezielt nach Stellenangeboten bei Sicherheitsdiensten gesucht, vorzugsweise ganz weit entfernt von seiner Heimat. Und war dabei ziemlich schnell auf die Möglichkeit Kreuzfahrtschiff gestoßen. Schiffe nämlich boten den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sie praktisch zu allen Seiten hin feste und schwer überwindbare Grenzen ihr Eigen nannten und sich darüber hinaus nie sonderlich lange am selben Ort aufhielten.
Immer wieder war da in schöner Regelmäßigkeit die »Magic Symphony« in den Jobbörsen aufgetaucht, ein Kreuzfahrtschiff mittlerer Größe, dessen Reederei Joster und Colani ständig knapp an Sicherheitsleuten zu sein schien. Die perfekte Fluchtburg für einen gescheiterten Polizeikommissar, der schnellstmöglich aus einem Pakt mit dem Teufel austreten wollte und musste. Das war im Herbst geschehen, und nun stand das neue Jahr 2014 vor der Tür. Hoffentlich ein besseres als das beinahe schon vergangene!
Unbeirrt schaute er sich weiter in der Kabine um. Sie war geräumig, daher gab es viel zum Umschauen, doch seine Aufmerksamkeit war in jahrzehntelanger Praxis geschult worden. Und es sind oft die kleinen Dinge, die auffallen. So entdeckte er das graue Knäuel fast unter der Gardinenkante vor der großen Fenstertür zum Balkon. Er bückte sich, um es aufzuheben, schrak aber jäh zurück.
»Was ist denn? Haben Sie einen Geist gesehen?« Der Arzt wurde offenkundig allmählich ungeduldig.
»Nein«, äußerte Adam mit hörbarem Abscheu in der Stimme. »Eine Maus. Eine tote Maus. Hätt nicht gedacht, dass es sowas auf einem so feinen Schiff überhaupt gibt!«
»Oh, da sind Sie aber auf dem falschen Dampfer!« Der Doc lachte über sein eigenes Bonmot. Es klang ein wenig gekünstelt, als müsste er damit etwas überspielen. Vielleicht war die Hygiene an Bord ja seine Sache. »Was meinen Sie, wie's auf Deck eins, bei uns unten eben, von diesen Biestern wimmelt? Überall, wo Lebensmittel sind, sind auch Mäuse und Ratten. Und die Lagerräume fangen gleich hinter dem Hospital an.«
»Aber wie halten Sie sie aus dem OP fern?«
»Gammastrahlen«, sagte der Doktor und strahlte selbst, wohl aus Stolz wegen seiner technischen Ausrüstung. »Dasselbe Vorgehen wie bei der Bestrahlung von Lebensmitteln, das erledigt selbst Bananenspinnen zuverlässig. Kobalt-sechzig. Bringt alles Lebendige auch im Operationssaal um, und die Strahlung verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.«
Ist ja gruselig, dachte Adam, der mit Radioaktivität schon in seinem ersten Leben einmal zu tun gehabt hatte, schaudernd und spürte eine Gänsehaut an den Armen. Er versuchte, die tote Maus am Schwänzchen zu fassen zu kriegen, aber just in diesem Moment stupste eine kleine Welle das Riesenschiff seitlich an und ließ den Mäuseleichnam direkt in seine Hand gleiten. Seltsam fühlte sich der an, leicht und trocken - als wäre das Tier aus Pappmaché. Mumifiziert auf jeden Fall, elendiglich verhungert wohl. Wie lange mochte diese Maus schon tot in der Luxuskabine gelegen haben, vielleicht ganz hinten unter dem Bett?
Angeekelt und auf schwer deutbare Weise verstört, öffnete Adam Asbeck die Balkontür und verschaffte der Maus eine astreine Seebestattung.
Menschentod und Mäusetod, sinnierte er.
Kapitel 2
War das womöglich der Startschuss, auf den so manch einer auf diesem Schiff längst gewartet zu haben schien? Insbesondere der Sicherheitschef Edmund Sandtner und Adams neuer Freund und Kollege Jochen...
Sandtner war bei Adams Vorstellungsgespräch in Hamburg dabei gewesen. Er und ein Mann von Joster und Colani, denn Seven Seas Security war eine hundertprozentige Tochterfirma dieser Reederei. Außerdem ein leitender Angestellter des Hotelbereichs der »Symphony«.
»Man möchte nicht glauben, dass Sie schon zweiundfünfzig sind«, hatte Sandtner zu Adam gesagt, nachdem dieser diverse Fitnesstests und eine umfassende ärztliche Untersuchung über sich hatte ergehen lassen müssen. Wirklich eine umfassende: Für seinen Geschmack viel zu viele Spritzen, mindestens einen halben Liter Blut hatten die ihm in kleinen Dosen abgezapft. Und offenbar nichts Schädliches darin gefunden.
Adam hasste Spritzen abgrundtief. Seine Mutter war Krankenschwester gewesen und hatte ziemlich viel davon gehalten, Medikamente immer gleich auf dem direktesten Wege zu verabreichen, statt sich mit einem zäpfchenverweigernden Kleinkind herumzuschlagen. Freilich hatte sie die Tortur danach fast immer mit einer kleinen Nascherei belohnt. Oft war das eine Breze gewesen, der dicke Brezenbauch aufgeschnitten und saftig mit Butter vollgeschmiert, die knusprigen Seitenteile – von der Mutter liebevoll als Flügerl bezeichnet – mit kleinen Flöckchen belegt. Da war die Injektion dann schnell vergessen gewesen.
Tempi passati. Mutter tot, die Heimat für immer verloren. Jede Art von Heimweh im Sinne längerfristigen Überlebens ersatzlos gestrichen!
»Unser Doc sagt, Sie sind biologisch auf dem Stand eines Mittdreißigers.«
»Gute Gene«, hatte Adam erwidert,