Gnade wird geschenkt – Gerechtigkeit kostet
Noch etwas: Gnade ist gewissermaßen das Gegenteil von »Gerechtigkeit«. Auf Schuld steht Strafe. Das ist gerecht, dem Gesetz gemäß. Und das ist ja das Besondere am Evangelium: »Die Strafe liegt auf ihm!« (Jes. 53,5) Dieses alttestamentliche Wort haben die ersten Christen auf Jesus bezogen. Er hat das Gesetz erfüllt, weil er sich der Strafe nicht entzogen hat. Er hat die Konsequenzen getragen – bis hin zur Todesstrafe am Kreuz.
Gnade ist völlig unverdient und umsonst. Ich kann und muss sie mir nicht erarbeiten und verdienen.
Gerechtigkeit dagegen ist teuer. Sie kostet Jesus das Leben. Er übernimmt die Verantwortung gegenüber dem Gesetz Gottes – für Sie und mich.
Allein durch Christus
Wenn man die Bibel liest, ist es immer hilfreich zu fragen, wer das Gelesene gesagt, gemacht oder geschrieben hat. Oft erschließt sich erst durch solche Recherche die Kernaussage eines Bibelwortes. So auch hier in Matthäus 5,20.
Matthäus zitiert Jesus selbst. Bei allen Diskussionen um Details: Zumindest Theologen in reformatorischer Tradition sind sich einig. Die »bessere Gerechtigkeit ist nicht die mehr oder weniger hart erarbeitete Akzeptanz Gottes, nicht der verdiente und in einem gottgefälligen Lebensstil begründete Lohn meines Lebens und auch nicht die Anerkennung Gottes für ein frommes, humanes und verantwortungsvoll geführtes Dasein – sondern die »bessere Gerechtigkeit ist jene, die Jesus Christus für uns erlangt hat. Er schenkt sie uns, er spricht sie uns zu.
Es lohnt sich, eines der wichtigen Werke Dietrich Bonhoeffers zu diesem Thema zu lesen, das Buch »Nachfolge«. Dieser Mann war ja nicht nur ein Märtyrer, der im April 1945 wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Hitler hingerichtet wurde und auch nicht nur ein tiefsinniger Dichter, der uns diesen schönen Text »Von guten Mächten wunderbar umgeben« hinterlassen hat. Bonhoeffer war vor allem ein begnadeter Theologe. In »Nachfolge« beschreibt er die bessere Gerechtigkeit eindrücklich. Er spricht von einer »geschenkten Gerechtigkeit«. Er macht deutlich, dass Jesus das göttliche Gesetz völlig erfüllt hat, auch den letzten Buchstaben und das »kleinste Tüpfelchen« (Mt. 5,18).
Die Schriftgelehrten und Pharisäer hatten sich redlich bemüht, alles zu erfüllen, was Gott von ihnen forderte. Deshalb wurden sie damals als religiöse Führer und Vorbilder durchaus geachtet und akzeptiert.
Ohne Zweifel, viele religiöse Eiferer verdienten Respekt – wenn sie nicht dem Wahn verfallen wären, sie könnten es von sich aus schaffen, Gott gefällig zu sein. Wenn sie nicht letztlich meinten, es läge an ihnen selbst und ihren guten und frommen Werken, den Himmel zu erreichen ... und am Ende bräuchte man vielleicht noch ein bisschen Vergebung für den letzten Rest nicht geschaffter Schuldlosigkeit. Und wieso sollte Gott solche Vergebung vorenthalten, war man doch ehrlich bemüht gewesen und schon so weit gekommen? ... Und am Ende bräuchte man nur noch eine kleine Portion von Gottes Gnade, um den letzten Schritt ins Himmelreich auch noch zu schaffen. Wieso sollte ein gerechter Gott seine Hand zurückziehen, bin ich doch die Leiter schon so hoch geklettert und habe es bis dahin allein geschafft?
Der religiöse (oder humanistische) Eiferer will und muss es selbst schaffen. »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!«, so packt er sein Leben und seinen Glauben an und meint dabei noch, besonders christlich zu sein. Allerdings ist sein Motto kein Bibelvers, sondern ein Zitat des Humanisten Johann Wolfgang von Goethe, der diesen Satz in Faust zweiter Teil, Kapitel 63, einem Engel in den Mund legt. In der Bibel steht nichts davon.
Jesus selbst ist die »bessere Gerechtigkeit«
In Matthäus 5,20 ist von einer »besseren Gerechtigkeit« die Rede als jene, die von Selbsterlösung gekennzeichnet ist. Christen beziehen sich nicht auf die eigene, sondern auf eine fremde Gerechtigkeit. Dietrich Bonhoeffer schreibt: »Weil aber diese Gerechtigkeit nicht nur ein zu leistendes Gut, sondern die vollkommene und wahre persönliche Gottesgemeinschaft selbst ist, darum hat Jesus nicht nur die Gerechtigkeit, sondern er ist sie auch selbst.«
Jesus hat den Willen Gottes nicht nur ohne Einschränkungen konsequent gelebt, er war bereits vorher völlig eins mit seinem Vater. Er verkörpert nicht nur die Liebe, sondern auch die Gerechtigkeit Gottes. Und deshalb ist er jene geschenkte »bessere Gerechtigkeit« in Person.
Man kann es nicht radikal genug sagen: Nur durch Christus ist der Zugang zu Gott für uns Menschen offen. Er ist nicht Wegweiser, sondern Weg (Joh. 14,6), ist nicht Türöffner, sondern Tür (Joh. 10,9). Durch Christus ist das »Reich (Gottes) herbeigekommen.« (Mk. 1,15). »Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.« (Mt. 4,17). In dieser immer wiederkehrenden und von allen Evangelisten bezeugten Verkündigung sprach Jesus genau genommen von sich selbst.
Ich finde, »Himmel« ist eine wunderschöne biblische Metapher für das Reich Gottes und die Gemeinschaft mit dem Vater und Schöpfer allen Lebens. Was im Englischen »sky« genannt wird, ist damit natürlich nicht gemeint, sondern »heaven«. Der Himmel ist kein geografischer Ort, irgendwo »oben« im oder über dem Weltall. Himmel ist dort, wo Gott mit uns Gemeinschaft hat. Himmel ist dort, wo Jesus ist, weil er allein diese Gemeinschaft ermöglicht und schenkt. Und eben nur dort ist die »bessere Gerechtigkeit« zu haben.
Auch Dietrich Bonhoeffer verknüpft die »bessere Gerechtigkeit« und Jesus Christus miteinander. Folglich bekommt man sie nicht durch eigenes Tun und Machen, sondern nur durch die Beziehung mit Jesus – und die nennen wir »Glauben«.
Allein aus Glauben
Wir sind beim dritten »Soli« der Reformation gelandet. Allein aus Gnade, allein durch Christus – es wird sofort deutlich, dass dies mit meinem Handeln und Machen nichts zu tun hat. Ich kann und muss mir den Himmel nicht verdienen. Im Gegenteil: Wenn ich dies meine und behaupte, leugne ich die Güte meines liebenden Vaters und mache aus ihm einen christlichen Erzieher, der mich nur mit ewigem Leben belohnt, wenn ich mich anstrenge und seinem Willen entspreche. Und ich leugne Christus, der eigentlich nicht in diese Welt hätte kommen müssen, da wir Menschen den Weg zum Leben und die Tür zur Ewigkeit ja auch ohne ihn finden und nutzen könnten. Wozu braucht es noch Jesus Christus, wenn meine »Gerechtigkeit« völlig ausreicht, mich zu erlösen und wenn ich ohnehin für den letzten fehlenden Rest einen Anspruch auf Gottes Gnade habe?
Es ist also nicht nötig, immerzu auf meine Verdienste und auf mein Wirken und Machen zu verweisen, wie es jene Ruheständler damals taten. Ich muss mich nicht ständig beweisen und rechtfertigen, weder vor anderen noch vor mir selbst und schon gar nicht noch vor Gott. Zumindest die Anerkennung Gottes bekomme ich nicht durch das, was ich mache bzw. gemacht habe.
Also aus dem Glauben?
Das dritte reformatorische »Allein« behauptet ja genau dies. »So halte ich dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« (Rö. 3,28). Besonders Paulus hört nicht auf, für den Glauben als Weg zum Leben und zu Gott zu werben.
Allerdings: Ist »Glauben« nicht auch »gemacht«? Ich gehe und sitze, ich bastle und spiele, ich lerne und lehre, ich hoffe und glaube. Glauben ist doch auf jeden Fall etwas Aktives, etwas Gemachtes – oder?
Ja und nein.
»Auf dem Kirchentag treffen sich über hunderttausend evangelische Gläubige!« Weil man auf dem Kirchentag ist, ist man »gläubig«. So sehen es jedenfalls die Medienvertreter. Jemand geht zur Kirche, er oder sie betet und spendet für »Brot für die Welt«. Das sind Gläubige – oder? Man erkennt sie zumindest an ihrem Handeln, Machen und Tun. »Wenn du Christ bist, dann ...«, auch so hört man es gelegentlich. Christsein wird mit guten Taten verbunden, mit Nächstenliebe und Diakonie.
Aus meiner Sicht macht »gläubig« sich meistens an den Äußerungen fest. In manchen Kreisen geht es dabei nicht nur um Frömmigkeit, Moral und