Die zweite Postkarte. Mark S. Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark S. Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742706287
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      Resigniert hob Kurt die Hände und ergab sich. „Ja, ich gebe Ihnen Recht. Ich sollte mein klein kariertes Denken einstellen. Zurück zum Thema. Was wissen Sie über Ecstacy?“

      „Mir ist nur bekannt, dass einige, wenn sie eine lange Partynacht durchfeiern wollen, Tabletten einnehmen um länger durchzuhalten. Mit dem Zeug lässt sich die ganze Nacht durchtanzen. Lediglich in den folgenden Tagen ist der Akku leer.“

      „So wirkt Henning manchmal“, sinnierte Kurt.

      „Haben Sie mit ihm über diese Problematik gesprochen?“

      Kurt schilderte Helena die Ereignisse der letzten Wochen.

      „Haben Sie ihn denn jeden Tag gesehen, seit dem Ihre Frau nach Mallorca geflogen ist?“

      „Bis vorgestern. Gestern musste ich die abendliche Verabredung wegen des Stresses in der Firma absagen und schlug vor, dass wir uns heute Morgen um 8.00 Uhr zum Frühstück treffen. Das empfand mein Sohn als zu früh. Er schlug heute Mittag vor, aber da konnte ich wiederum nicht. Vor allem nervt mich, dass ich mit meinen Sohn nur per SMS oder Mailbox kommunizieren kann.“

      Helena runzelte die Stirn. „Wollen Sie nicht lieber nach Hause fahren und auf ihren Sohn warten, statt mit mir hier zu sitzen?“

      Nicht noch eine, die mein schlechtes Gewissen weiter aufbohrt, stöhnte Kurt in seinem Inneren und atmete tief ein. „Wie ich bereits schilderte, bekomme ich meinen Sohn aktuell nicht zu fassen. Folglich muss ich mich bis heute Abend gedulden. Des Weiteren pflege ich meine Verabredungen einzuhalten. Da ich Ihre Telefonnummer nicht habe, konnte ich unser heutiges Treffen nicht verschieben.“

      „Sie hätten mich doch einfach sitzen lassen können. Susanne würde genauso handeln, wenn es mir nicht gut gehen würde.“

      Mit leichtem Trotz in der Stimme stellte Kurt klar, dass seine Söhne in einem guten Elternhaus groß geworden sind und dass solche pubertären Eskapaden zum Erwachsenwerden dazugehören.

      Beide schwiegen eine Zeit lang, schauten einer Hafenbarkasse hinterher, deren Wellen mit Verzögerung auf den Oevelgönner Strand aufliefen. Schließlich beendete Helena das Schweigen.

      „Es ist wirklich nicht meine Absicht und auch nicht meine Aufgabe, Ihnen altkluge Erziehungstipps zu geben. Eine englische Freundin merkt gelegentlich an, dass ich zu einer hellenistischen Arroganz neige. Bitte lassen Sie darum etwas Milde im Umgang mit mir walten.“

      Voila, dachte Kurt. Die junge Dame verfügt über die Fähigkeit der Selbstreflektion. Diese Begabung hatte sie in den bisherigen Gesprächen noch nicht durchschimmern lassen. Er nickte mit einem wohlwollend Lächeln ihr zu und wechselte das Thema: „Damals entstanden Spannungen zwischen Susanne und ihren Eltern. Haben Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?“

      „Mein Großvater ist vor elf Jahren verstorben. Auf der Rückreise von Weimar habe ich meine Großmutter kurz in ihrem kleinen schwäbischen Dorf besucht. Sie fragte mich nach meinem Studium; aber letztendlich erlebte ich eine oberflächige Begegnung mit ihr. Auch wenn immer gesagt wird, dass Blut dicker als Wasser ist, so fanden wir doch keinen gemeinsamen Nenner, der unsere Seelen verbindet. Meine Großmutter hat den Sinneswandel meiner Mutter nie nachvollziehen können. Wie eine Frau, die seit Jahren glücklich mit einem Mann zusammenlebte, sich mit Ende Zwanzig von diesem trennt und darüber hinaus ihren Job als Bankkauffrau für eine Weltreise aufgibt, überstieg Großmutters Vorstellungskraft. Daher haben beide Seiten nie engeren Kontakt zueinander gesucht.

      Somit eignet sich meine Großmutter keinesfalls als Zeitzeugin, die mir aus Sicht einer neutralen, dritten Person den Richtungswechsel meiner Mutter schildern kann. Von daher ruhen meine Hoffnungen auf Ihnen, der in dieser Zeit Susanne am Nächsten stand.“

      Kurt musste lachen: „Ich und neutraler Beobachter. Ich war über beide Ohren in Susanne verliebt.“

      „Dann streiche ich die Vokabel neutral und formuliere es so: Ich suche jemanden, der mir schildert, wie er die Susanne der Endachtziger Jahre erlebt hat.“

      Kurt schaute auf seine Uhr. „Gerne erzähle ich Ihnen, wie ich Susanne kennen gelernt und wahrgenommen habe. Auch würde es mich freuen, wenn Sie mir etwas von Susannes weiterem Lebensweg erzählen. Doch würde ich jetzt gerne wegen meines Sohnes nach Hause fahren. Schaffen wir es, uns noch einmal zu sehen? Freitag habe ich morgens eine mörderische Redaktionssitzung. Gegen 16.00 Uhr könnte ich.“

      „Das passt. Am Samstag fahre ich eine Freundin in Kopenhagen besuchen.“

      „Wenn das Wetter weiterhin so bleibt, könnten wir an der Alster spazieren gehen. Als Treffpunkt schlage ich die Krugkoppelbrücke vor.“

      „Einverstanden. Da ich heute nichts weiter vorhabe, würde ich gerne noch eine Weile hier am Elbstrand bleiben.“

      „Dann Ihnen noch einen schönen Abend“ wünschte Kurt, erhob sich und ging in Richtung des Museumshafen davon.

      Helena schaute ihm nach. Sie ahnte, was ihre Mutter damals an Kurt fasziniert haben könnte. Allerdings konnte sie nicht verstehen, was den Studenten Kurt dazu gebracht hatte, den Wandel vom Paulus zum Saulus zu durchwandern.

      Kapitel 9

      27. Juli 2011

      Da Werbebroschüren ihm aus dem Briefkasten entgegenstarrten, ging er davon aus, dass Henning nicht daheim war. Der unbeantwortete Widerhall seiner Stimme bestätigte ihm diese Mutmaßung. Kurt ging in die Küche, entnahm dem Kühlschrank ein Bier und genoss dieses auf der Terrasse, während er eine Wochenzeitung las. Als Henning gegen 23.00 Uhr immer noch nicht erschien, versuchte Kurt ihn auf seinem Mobiltelefon zu erreichen. Erneut schallte ihm lediglich der Technosound des Anrufbeantworters entgegen. Erschöpft von diesem Tag räumte Kurt zunächst ein wenig in der Küche auf. Nach dem Routinebesuch im Badezimmer legte er sich aufs Bett. Vor seinen inneren Augen ließ er die Gespräche mit Dr. Gründgens, Andresen und Helena Revue passieren und schlief schließlich ein.

      Aufgeschreckt durch einen Knall fuhr Kurt mitten in der Nacht hoch. Das Adrenalin in seinen Adern weckte ihn schlagartig. Kurt lauschte in die Dunkelheit hinein. Kein Ton war zu hören. Wahrscheinlich hatte er doch nur geträumt. Gerade als er seinen Kopf wieder auf dem Kissen ablegte, hörte er kurz eine menschliche Stimme. Der Wecker zeigte 0.45, als Kurt sich vorsichtig erhob und zur Tür schlich. Nun vernahm er zwei Stimmen, die ihm Erdgeschoss flüsterten. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltweit. An der giggelnde Stimme erkannte er seinen Sohn. Im Schlafanzug empfing er Henning und dessen Freundin am oberen Ende der Treppe. Ina erschrak und Henning krümmte sich vor Lachen, als er seinen Vater sah.

      „Was besseres als Lachen fällt dir nicht ein, wenn du mich in tiefer Nacht weckst?“ donnerte Kurt ihm entgegen. Mit großen Augen starrte Henning seinen Vater an, bevor er sich erneut in einer Lachattacke ergab. Feixend und Grimassen ziehend versuchte Henning sich an Kurt vorbeizuschieben.

      „Du bist ja völlig stoned. Hast du wieder Pillen geworfen?“

      „Nein, nein, wir sind in einer Kneipe mit ein paar Freunden versackt. Ich glaube, Henning sollte jetzt lieber ins Bett. Alles Weitere können wir doch morgen besprechen“, schob Ina schnell ein und leitete Henning in Richtung des Badezimmers. Henning pendelte zweimal aufgekratzt zwischen seinem Zimmer und dem Bad hin und her, während Ina ihm mütterlich klingende Anweisungen hinsichtlich der Körperpflege und des Umziehens gab. Verstimmt beobachtete Kurt das Geschehen. Angesichts des gestressten Blicks von Ina sah er von einer weiteren elterlichen Intervention gegenüber seinen Jüngsten ab. Besorgt dachte er an das Gespräch am nächsten Morgen und legte sich wieder ins Bett.

      28. Juli 2011

      Die graue Wolkendecke spiegelte seine innere Verfassung wider. Träge bewegte er sich ins Badezimmer. Der Wasserstrahl der Dusche regte ein paar seiner Lebensgeister an. In der Küche brühte er sich einen Cafe Latte, löffelte das Müsli in sich hinein, während er die Tageszeitung durchblätterte. Eine kurze Zeit später trat Ina in die Küche. Mit einem kurzen Morgengruß ging sie zum Kühlschrank, schenkte sich ein Glas Milch ein und schlürfte