Die zweite Postkarte. Mark S. Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark S. Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742706287
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dass sowohl ihre Beziehung als auch Ihre Fernsehkarriere in der U-Bahn begonnen haben. Wie kommt man von der U-Bahn ins Fernsehen?“

      Kurt erzählte ihr kurz von seinem Vorsatz, den er an Silvester 1985 gefasst hatte und dass er sich angewöhnt hatte, Mitfahrern in der Bahn Fragen zu stellen.

      „Was für Fragen haben Sie den Menschen gestellt?“

      „Anfangs habe ich mich erkundigt, was die Menschen von dem Neuen Jahr erwarten.“

      „Und kamen immer die gleichen Antworten?“

      „Keinesfalls. Einige Personen lehnten schroff eine Beantwortung ab oder schwiegen gänzlich. Aber viele antworten freizügig und angesichts des ungewöhnlichen Szenarios auch ganz nachdenklich. Manche Dinge entsprachen dem Klischee: HSV-Fans träumten von der Meisterschaft, St. Pauli-Fans vom Aufstieg in die zweite Liga. Zur damaligen Zeit war das zentrale politische Thema in Hamburg die Hausbesetzung in der Hafenstraße. Viele junge Menschen sympathisierten mit den Hausbesetzern, während viele andere meinten, man möge mit dem Gesindel endlich aufräumen. Als es im April zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Tschernobyl kam, war die Stimmung eine Zeitlang sehr bedrückt. Die Sorge um die eigene Gesundheit stand im Mittelpunkt und diese nicht sicht- und spürbare, aber dennoch reale Bedrohung durch radioaktive Strahlen verunsicherte die Menschen sehr. Fußball und andere Alltäglichkeiten rückten für einige Wochen in den Hintergrund. Allerdings zeigte sich bald, wie schnell der Mensch Dinge verdrängt und sich wieder seinem Alltag zuwendet.“

      „Was für Fragen haben Sie noch den Menschen gestellt?“

      „Wenn ich provozieren wollte, stellte ich politische Fragen. Da ein befreundeter Kommilitone von mir zu den Hausbesetzern in der Hafenstraße gehörte, beschäftigte mich dieser Konflikt sehr und ich interviewte daher einige Wochen lang die Fahrgäste, welche Vorschläge sie zur Lösung des Konfliktes hätten. Diese reichten von Revolution bis zur Vergasung, was mich angesichts der deutschen Geschichte sehr erschreckte. Anderseits konnten wir diese Ideen gut in unserem Kabarettprogramm ausbreiten und somit die hanseatische Gesellschaft scharf karikieren.

      Schließlich ging ich dazu über philosophische Fragen, nach Zufriedenheit, Glück und Sinn des Lebens zu stellen.“

      „Auf welche Ihrer Fragestellung gab es die interessantesten Antworten?“

      Kurt überlegte kurz „Wenn Sie Ihr Leben noch mal von vorne starten können, was würden Sie anders machen?“

      Helena hatte ihre weißen Sandalen abgestreift, trug diese am Riemchen in der linken Hand, derweil ihre Füße den warmen Sand genossen. Während die Sonne von einem strahlend blauen Himmel auf die beiden hinablächelte und Hafenfähren das Fahrwasser durchkämmten, sinnierte Helena über Kurts Worte. Schließlich blieb sie stehen und wand sich ihm zu: „Welche Antworten erhielten Sie von den Menschen auf diese Frage?“

      „Sehr unterschiedliche. Ich glaube, mit dieser Fragestellung dringt man in die Tiefen eines Menschen ein. Einige schwiegen, wirkten aber nachdenklich. Andere teilten mir mit, dass das mich gar nichts anginge. Viele erzählten, dass sie sich mehr in der Schule oder Ausbildung anstrengen würden oder einen anderen Beruf wählen würden.

      Einige äußerten, dass sie ihre Kinder anders erziehen würden. Häufig wurden auch gescheiterte Beziehungen genannt. Beeindruckend fand ich, als mir jemand sagte, dass er sein Leben noch mal genauso gestalten würde.“

      Beide gingen eine zeitlang schweigend durch den Strand.

      „Gab es auch Situationen, die Sie besonders berührten?“ wollte Helena wissen.

      „Da gab es einige sehr persönliche Momente. Bei einer meiner ersten Begegnungen schilderte mir eine Frau einige Kriegserlebnisse. Ihr Mann war Halbjude. Er wurde von der Gestapo ins Konzentrationslager deportiert und er starb zwei Wochen vor Kriegsende dort. Sie wiederholte mehrfach, warum hat Deutschland nicht am 24.April kapituliert? Dann würde mein Mann noch leben. Mich schockierte, dass weniger der Tod ihres Mannes diese Frau beschäftigte, sondern dass die Verzweiflung über die vierzehntägige Verspätung der Kapitulation im Fokus stand. Sie haderte weniger mit den Gräueltaten des Naziregimes als vielmehr mit dem unpünktlichen Sieg der Alliierten.“

      Gedankenverloren stapften beide durch den Sand. Schließlich hakte Helena nach. „In Ihren Beispielen beschreiben Sie Situationen, in den Menschen in ihre Vergangenheit zurückschauen. Gab es auch Momente, in denen Personen mit aktuellen Problemen zu kämpfen hatten?“

      Kurt überlegte eine Weile. „In Erinnerung geblieben sind mir die Worte eines Mannes, der angesichts einer unheilbaren Krebserkrankung äußerte: ´Was soll die Frage nach Glück oder was ich in meinem Leben ändern möchte. Ich und meine Familie müssen gerade lernen mit dem unabwendbaren Schicksal klarzukommen. Das Zepter liegt nicht mehr in meiner Hand. Ändern möchte ich viel, aber es steht nicht in meiner Macht.´

      Finden Sie es nicht auch verrückt, dass man manche Sätze noch nach mehr als zwei Jahrzehnten wortwörtlich wiedergeben kann?“

      Helena wirkte Gedanken verloren und zuckte kurz bei Kurts letzten Worten.

      Kurt führte seine Gedanken fort: „Im Nachhinein waren mir diese Momente unangenehm. Rückblickend entwickelte ich Scham angesichts dessen, dass ich unbekannten Menschen sehr nahe getreten bin. Noch heute überrascht mich wie persönlich diese Antworten waren und, dass ich wagte, Fragen zu stellen, die tief in die Privatsphäre eingreifen.“

      „Aber sie tun dieses doch immer noch – allerdings in einer progressiveren Weise. Wie Sie mir bei unserem ersten Treffen erzählten, sind Sie doch verantwortlich für Sendeformate, die genau das tun. Sie entblößen die Schicksale von Menschen vor der Fernsehnation, die sich dann an diesen Schicksalen ergötzt. Von daher forcieren Sie doch Voyeurismus.“

      Also doch, dachte Kurt, die Amazone ist in den Sattel gestiegen und kämpft wieder. Dass Helena keine Begeisterung fürs Privatfernsehen entwickeln würde, realisierte Kurt bereits in ihrer ersten Begegnung. Ob dieses aber die Ursache für ihre Wortgefechte war, konnte er nicht analysieren. Vielleicht führte sie stellvertretend für Susanne eine Auseinandersetzung. In diesem Fall konnte Kurt aber nicht erkennen, welche Rechnung Susanne mit ihm noch begleichen wollte und welchen Part Helena dabei spielen sollte.

      Als ob nichts gewesen sei, schlug Kurt vor, dass sie umdrehen und an der Strandperle etwas trinken könnten. Kopf nickend stimmte Helena zu und sie gingen einige Minuten stumm nebeneinander her. Um die angespannte Sprachlosigkeit zwischen ihnen zu überbrücken, zeigte Kurt auf ein Gebäude. „In dem kleinen Kapitänshaus mit den blauen Fenstern wohnte Thies. Häufig traf sich unsere Kabarettgruppe bei ihm.“

      „Wohnt er nicht mehr in dem Haus?“

      „Kann schon sein. Thies hatte dieses Haus von seiner Großmutter ja geerbt. Allerdings ist der Kontakt zwischen Kurt und mir vor langer Zeit abgebrochen.“

      „Wie kam es dazu?“

      „Ich glaube, Thies hatte Probleme damit, dass ich als einziger aus unserer Kabaretttruppe Erfolg in den Medien hatte.“

      Nach einer Phase des Schweigens hakte Helena nach: „Meine Mutter erzählte mir, dass Sie zu der Zeit, als Sie Susanne kennen lernten, vom Fernsehen entdeckt wurden.“

      „Ja, manchmal übernimmt der Zufall die Regie im Leben. Auf einer meiner Bahnfahrten interviewte ich einen Mann. Er trug einen modischen anthrazitfarbenen Anzug mit italienischen Schnitt und braune Schuhe. Lustlos durchblätterte er ein Kulturjournal. Folglich fragte ich ihn, ob er nicht auch der Meinung sei, dass Kultur heutzutage eine langweilige, künstlerische Berieselung sei, die die Menschheit in den Mantel der Ahnungslosigkeit einlulle. Irritiert schaute er mich an und auf seinen Wunsch hin wiederholte ich meine Aussage. Ein interessanter Gedanke, meinte er, wie ich darauf käme.

      Ich äußerte, dass ich noch nie jemanden gesehen habe, der so gelangweilt ein Kulturmagazin durchstöbert habe. Wenn er eine Autozeitung oder ein Sportjournal so überflogen hätten, wäre es mir nicht aufgefallen.

      Er erwiderte, dass meine These zur kulturellen Langweile, die den Bürger narkotisiert, zum Nachdenken anrege. Wenn er an einige der neu angelaufenen