Die zweite Postkarte. Mark S. Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark S. Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742706287
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und erschrak. „Oh, ich bin in einer halben Stunde mit meinem Sohn Henning zum Abendessen verabredet. Das ist mir jetzt unangenehm. Wollen wir uns noch ein weiteres Mal treffen?“

      „Ich bin noch ein paar Tage in Hamburg. Eine spannende Zeit von der sie gerade erzählten. Hätten Sie Lust mir den Ort an der Elbe zu zeigen, den meine Mutter liebte?“

      „Ach ja, der Elbsand bei der guten alten Strandperle. Ja, diesen Kiosk gibt es immer noch. Morgen ist mein Terminkalender voll, aber wie sieht es Übermorgen bei Ihnen aus, so ab 16.30? Wir könnten uns hier vorm Cafe treffen und fahren dann an die Elbe.“

      „Einverstanden.“

      Kurt stand auf, bezahlte für beide und verschwand im Regen.

      Helena bestellte sich noch einen Latte Macchiato und rührte Gedanken versunken darin. Wie konnte aus einem linken Studenten so ein arroganter Medienschnösel werden?

      Kapitel 6

      25. Juli 2011

      Mit zehnminütiger Verspätung parkte Kurt auf dem Stellplatz. Er sprintete durch den Regen ins Haus und hörte schon beim Aufschließen der Eingangstür wie das eintönige, inzwischen vertraute Wummern des Techno-Breis aus dem oberen Stockwerk über die Treppenstufen ihm entgegen quoll. Das einzig beruhigende an diesem metallisch-hippeligen Dröhnen war die Gewissheit, dass der Sohn zuhause war.

      Mit lautem Pochen an Hennings Zimmertür verkündete Kurt seine Ankunft. Sie einigten sich auf die kulinarische Rarität Rumpsteak und Tomatennudeln. Während sie gemeinsam in der Küche am Gemüseschneiden und Brutzeln waren, versuchte Kurt mehr über die Drogenerfahrung seines jüngsten Sohnes zu erkunden.

      Mit einer Betonung, die eine dezente Genervtheit verriet, meinte Henning: „Papa, können wir nicht einmal einen Abend ohne dieses Thema verbringen?“

      Kurt ließ ihre letzten Gespräche vor seinem inneren Auge Revue passieren und konnte Hennings Argumentation nachvollziehen. Da davon auszugehen war, dass Manuela nach ihrem Urlaub verstärkt Henning beobachten und kontrollieren würde, wäre es sinnvoll, wenn Kurt diesem Trend nicht folgen würde. Am besten dachte sich Kurt, ich gestalte den Kontakt mit Henning so wie immer. Dieses würde die Gefahr verringern, dass er sich gänzlich vor den Eltern verschließt.

      „Okay, was hältst du von einem netten Fernsehabend angesichts des Wetters?“

      „Das klingt gut. Es gibt einen witzigen amerikanischen roadmovie. Wollen wir den sehen?“ Kurt nickte und der alte Germanist in ihm ärgerte sich über den Anglizismus. Gleichzeitig dachte er, dass „Straßenfilm“ auch nicht gerade attraktiv und zeitgemäß klang.

      Nachdem sie mit Chips und Smalltalk einen entspannten Fernsehabend verbracht hatten, ging Henning in sein Zimmer.

      Während Kurt seinem Gaumen anschließend noch ein Glas von einem guten Bordeaux aus dem Pauillac gönnte, lief das Gespräch mit Helena wie eine Wiederholungssendung vor seiner inneren Mattscheibe ab. Seine Gefühle waren ambivalent. Zum einen gefiel ihm ihr interessiertes Zuhören und Nachfragen. Zum anderen störte ihr forsches und anmaßendes Auftreten, das vereinzelt ins Unverschämte kippte.

      Ihn selbst überraschte, wie viel er von sich einer fremden Person offenbarte.

      Letztendlich musste sich Kurt eingestehen, dass der Gesprächsverlauf betörende Wirkung auf ihn hatte. Wie bei einem Tauchgang in die eigene Vergangenheit erlebte er den Tiefenrausch der eigenen Lebensgeschichte. Erinnerungen, die lange auf dem Grund seines Bewusstseins gelegen hatten, stiegen langsam an die Oberfläche und schnappten nach belebendem Sauerstoff.

      Mit einem nostalgischen Lächeln auf den Lippen dachte er an die Anfangszeit in der Universität und im Cafe zurück. Im April 79 hatte er mit seinem Studium der Theaterwissenschaften begonnen; drei Monate später zog er in seine kleine Einzimmerwohnung am Lattenkamp. Um seine Miete und seinen Alltag zu finanzieren, hatte er zunächst einige kleine Gelegenheitsjobs, ehe er im Herbst 1980 den Job im Cafe „zeitlos“ fand. Er war mehrmals – oft in Pausen zwischen Vorlesungen – Gast in dem Cafe gewesen und hatte dort seinen Milchkaffee geschlürft, während er in Theatertexten, philosophischen Extrakten oder Gedichtbänden wühlte. An einem regnerischen Vormittag trat er als erster Kunde in das Lokal ein. Die Besitzerin Charlotte war gerade damit beschäftigt eine Lebensmittellieferung in Kühlschränken und Regalen zu verstauen und wirkte sehr gestresst. Kurt schlug er ihr vor, dass er sich seinen Milchkaffee selber machen könne. Ob er sich denn zutraue, den Milchschaum mit der Espressomaschine herzustellen, fragte sie. Kurt ließ keine Zweifel aufkommen, dass er in dieser Disziplin scheitern könne und als Beweis servierte er nicht nur sich sondern Charlotte gleich einen Milchkaffee dazu. Während sie diese tranken, gewährte Kurt kleine Einblicke in sein studentisches Leben und Charlotte legte ihre unternehmerischen Aktivitäten dar.

      Angesichts dessen, dass sie noch eine Tresenkraft suche und er soeben zwei Kaffees serviert habe, deren Milchschaumhauben annähernd Referenzniveau erreichten, käme er für den Job in Frage. Besser als seine anderen unsicheren Gelegenheitsjobs dachte Kurt und vor allem mit einer Chefin, die netter zu sein scheint als all die anderen Stinkstiefel, die meinen ihn herumkommandieren zu dürfen. Damals ahnte er nicht, wie lange er noch studieren würde und dass er annähernd neun Jahre bei Charlotte im Cafe mit einer halben Stelle arbeiten würde. Keine Minute hatte er bedauert, im Cafe „zeitlos“ zu arbeiten.

      Aus der Armada von Frauen, die ihm bisher im Leben begegnet waren, ragte Charlotte durch eine Besonderheit heraus, die Kurt nur mit einer einzigen anderen Frau erlebt hatte. Nie gab es einen Streit mit Charlotte; genauso wie er es auch mit seiner Großmutter erlebt hatte.

      Kapitel 7

      26. Juli 2011

      Mit schweißnassem Pyjamahemd stand Kurt im ersten Morgengrauen auf. Fetzen eines Traumes bewegten sich wie Gardinen, die durch eine Morgenbrise in feine Schwingungen versetzt werden, in seinem Kopf. Die Nachklänge eines virtuellen Streits zwischen ihm und Susanne streiften durch das Schlafzimmer.

      Während Kurt sich seinen morgendlichen Badezimmeraktivitäten hingab, verspürte er die Enttäuschung, dass Susanne nicht selbst erschienen war. Eine Begegnung mit ihr hätte ihn sicher emotional stärker aufgewühlt. Nun konnte Kurt lediglich aus der Distanz durch die Augen der Tochter kleine Einblicke in den Lebensweg von Susanne erheischen. Während sein Rasierapparat den Konturen der unteren Gesichtshälfte folgte, beschäftigte Kurt die Fragestellung, ob er nach über zwanzig Jahren noch Wut wegen Susannes überraschenden Verschwindens empfinde. Lediglich eine Postkarte mit einer moralischen Frage hatte ihm zum Abschied gewunken.

      Er stocherte immer noch im Nebel über die Gründe für die Trennung. Allerdings bezweifelte er, dass Helena eine Antwort im Gepäck mit sich trage.

      Um elf Uhr hatte die Geschäftsführung zur monatlichen Konferenz aller Leiter der Programmbereiche geladen. Als offizielles Hauptthema stand auf der Tagesordnung wie immer die Zuschauerquote der verschiedenen Ressorts. Neben diversen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen sollte noch über einen weiteren Punkt „Feedback“ gesprochen werden. Was sich dahinter verbarg, wusste keiner der Bereichsleiter. Kurt und seine Kollegen lästerten bei Erhalt der Einladung, dass die Geschäftsführung wohl auf Empfehlung einer Unternehmensberatung das Feedback als neues Instrument aus dem Bereich der „Softskills“ einführen wollte. Bereits in der Vergangenheit waren diverse methodische Säue durch das kleine Sender-Dorf getrieben worden. Seither hatte sich der Begriff „Softskills“ zum running gag in der rauen Redaktionswelt entwickelt: „Soft kills - Nur die harten Hunde kriegen keine Journalisten-Wunde.“

      In Gedanken schon im bevorstehenden Feierabend waren alle irritiert, als die Geschäftsführung, ein Feedback zu einer Sendung geben wollte. Sofort klingelten in allen Ohren die Alarmglocken. Bisher hatte sich die Führung nur für betriebswirtschaftliche Kennziffern, Zuschauerquote, Werbeeinnahmen und Programmprofile interessiert. Aus dem redaktionellen Kerngeschäft hielt sie sich generell raus, geschweige, dass sie sich zu einer bestimmten Sendung äußerte. Eine düstere Vorahnung mischte in Kurts Magen eine