Die zweite Postkarte. Mark S. Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark S. Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742706287
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zusammenarbeiten und zusammenleben geht meiner Meinung auf Dauer nicht gut!“

      Interessantes Lebenskonzept und verkehrte Welt dachte Helena: Der Typ, der mit seinem liberalen unverbindlichen Lebensstil meine Mutter aus dem konservativ bürgerlichem Modell befreit hatte, lebte diese nun – und dazu noch überzeugt – selbst.

      So macht jeder sich was vor.

      „Meine Mutter hat mir erzählt, dass ihr Vater ein erfolgreicher Rechtsanwalt ist. Wie sind sie aufgewachsen?“

      „Inzwischen ist mein Vater längst im Ruhestand. Meine Eltern leben beide in einer Seniorenresidenz. Mein Bruder ist in unser Elternhaus eingezogen und betreibt die Kanzlei weiter.“

      Kurt gab ihr einen Überblick über seine Kindheit und Schulzeit. Er erzählte von seiner Liebe zum Theater und zur Musik, von seinem Freund Heinz, mit dem er zusammen Rainer Maria Fassbinder verehrte und von den Jugendclubs, in denen über die Sinnhaftigkeit des Seins philosophiert wurde.

      „Klingt spannend. Was für Musik haben sie gehört?“

      Kurt lachte kurz auf. „Oh je. Für intellektuelle Weltmenschen, für die wir uns hielten, gehörte es sich, The Who, The Doors, Pink Floyd und andere Vertreter des Psychedelic Rock sich rein zu ziehen und nicht nur das inhalierten wir“ sagte Kurt mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.

      „Aha, da sitzt also ein Kiffer vor mir.“

      „Na ja, ein ehemaliger. Wollte man dazugehören, kiffte man.“

      „Wie reagierten ihre Eltern auf den kiffenden Sohn?“

      Kurt lachte, „Sie haben es nicht mitbekommen oder falls doch haben sie es ignoriert. Seit meiner Kindheit war unser Familienalltag davon geprägt, dass mein Bruder Dieter mich drangsalierte. Im Chor mit unserem Vater kritisierte er meine fehlende Zielgerichtetheit und linke Verträumtheit. Als ich kurz vor dem Abitur den Kriegsdienst verweigerte, wurde ich von beiden als Vaterlandsverräter und RAF-Unterstützer beschimpft. Zum endgültigen Eklat kam es, als am Nikolausabend 1976 es an der Tür klingelte. Nur statt des alten Herrn im roten Mantel und mit Sack standen dort vier Herren in grünen Jacken; sie ließen meinen beleibten Vater links liegen. Zwei stürmten die Treppe hinauf und die beiden anderen ins Wohnzimmer, wo die gesamte Familie in trauter Eintracht beim Abendbrot saß.

      Zwei Minuten später eskortierte mein Vaters starrer Blick mit drehender Kopfbewegung den Auszug der Gladiatoren, die seinen Sohn wegen des Verdachts Mitglied einer terroristischen Gruppierung zu sein mit Polizeigriff in einem Peterwagen quetschten.“

      „Wieso wurden sie verhaftet?“, fragte Helena gespannt.

      „Die RAF hatte ihre Hochzeit und schnell wurde man als Sympathisant verdächtigt. Gelegentlich ging ich auf Demonstrationen. Es gehörte zu den selbstverständlichen Spielregeln des linken Lebens, auf der Straße zu rebellieren.

      Auf einer dieser Demos ging ich zufällig neben zwei Männern, die in den Untergrund abgetaucht waren. Schließlich konnte ich die Ermittler überzeugen, dass von mir keine terroristische Gefahr ausging.“

      „Was haben ihre Eltern gesagt, als sie zurückkamen?“

      „Zunächst begegnete ich eisigem Schweigen, als ob Ignoranz mich bestrafen sollte. Am ersten Weihnachtstag implodierte die kollektive Grabesstille. Aufgrund des Besuches unserer Großmutter und der eigenen festlichen Erwartungen unternahm unsere Mutter den Versuch, die frostige Familienstimmung vorsichtig aufzutauen. Diplomatisch umschrieb sie meine Verhaftung als aufregende Adventszeit und äußerte die Hoffnung, dass alle eine friedvolle, besinnliche Zeit miteinander verbringen würden. Dieser Wunsch überforderte unseren Vater. Wie könne er besinnliche Tage verbringen, wenn der jüngste Sohn so von Sinnen sei, dass sein Telefon – wohlgemerkt der Anschluss eines Rechtsanwalts – vom Verfassungsschutz abgehört werde.

      Ich hielt dem entgegen, dass mein Vater den gleichen blinden Staatsgehorsam an den Tag lege wie sein Vater. Um nicht Verfolgte der Nazidiktatur zu verteidigen, wechselte unser Großvater, der hoch angesehene Rechtsanwalt Prof. Dr. Theodor Assens während des Dritten Reichs aus dem Strafrecht schnell ins Wirtschafts- und Vertragsrecht. Als ich meinem Vater deshalb vorschlug, er könne Organisationen, die Opfer der Nazidiktatur unterstützen, Geld spenden, explodierte er und entzog mir das Wohnrecht in seinem Haus.“

      „Sind sie sofort ausgezogen?“

      „In die entstandene Stille sagte meine Oma, die bis zu diesem Zeitpunkt geschwiegen hatte, ´Kurt, ich vergaß, ich habe übrigens noch ein kleines Geschenk für dich`. Am Tisch schauten sich alle verdattert an, wie konnte Großmutter angesichts dieses heftigen Streits nur an ein Geschenk denken? Mit ruhiger Stimme schob sie hinterher: ´Das Problem ist, es lässt sich so schlecht verpacken - dein Wohnrecht in meiner Wohnung.`

      Stille Nacht – keiner rührte sich, bis unser Vater sich entschloss wie der Stern von Bethlehem am Horizont zu verschwinden. Noch am zweiten Weihnachtstag packte ich meinen Koffer, schnappte meine Stereoanlage nebst Schallplattensammlung und bezog Quartier bei meiner Großmutter.“

      „Sie schienen zu Ihrer Oma ein besonderes Verhältnis gehabt zu haben?“

      „Sie war meine Fürsprecherin in der Familie. Unser Vater ließ keine Widerrede zu und bügelte alles platt. Der Gerichtssaal war der einzige Ort, an dem er Gegenargumente zuließ, bevor er sie juristisch versiert in Fetzen zerriss. Oma Hertha unternahm viel mit mir und baute mich immer auf. Trost, bedingungslose Annahme und Zärtlichkeit bekam ich von ihr. Ihr vertraute ich meine schulischen Probleme und die Gemeinheiten meines Bruders an. Selbst während des Studiums war sie die einzige aus der Familie, die ich zweimal monatlich besuchte.“

      „Wohnten Sie lange bei ihrer Großmutter?“

      „Während meines Zivildienstes in einem Krankenhaus und meines Jobs als Helfer in einem Maschinenbauunternehmen wohnte ich bei meiner Oma; insgesamt knapp drei schöne Jahre.

      Erst als ich studierte, mietete ich eine kleine Wohnung an.

      „Wie sahen ihre weiteren politischen Aktionen aus?“

      „Vereinzelt ging ich noch auf Demonstrationen. Allerdings schreckten mich große Menschenansammlungen ab. Ich teilte damals die links-marxistisches Kritik. Allerdings konnte ich die Sympathie für die RAF nicht nachvollziehen. Ihre verzweifelte Ohnmacht konnte ich nachvollziehen, aber den gewalttätigen Weg nicht. Das Schwarz-Weiß-Denken beider Seiten ging mir gegen den Strich. Alle waren so verbissen und ernst.

      Mit meinem Freund Thies, den ich während meines Jobs in der Maschinenbaufirma kennenlernte, habe ich viel über linke Gruppierung gelästert. Thies selber war zwar in einer aktiv, aus Überzeugung Metallbauer und eingefleischter Gewerkschafter, aber er besaß die große Gabe der Selbstironie. Wir besuchten mehrfach Kabarettprogramme.

      Diese Form der Staatskritik gefiel uns: Nicht mehr auf Demos mit Steinen Staatsbeamte bewerfen, sondern die Politik des spießbürgerliche Etablissement mit Worten bombardieren, die sowohl deren Widersprüchlichkeit als auch deren unkritisches und staatsloyales Denken zu Tage förderten. So entstand die Idee eine eigene Kabarettgruppe zu gründen.

      „Meine Mutter erwähnte, dass sie sehr lange studiert haben.“

      „Nicht nur das: Mit meinen Fachrichtungen Theaterwissenschaften, Philosophie und Germanistik würde ich heutzutage in der Rubrik perspektivloser Exot landen.

      „Wieso wechselten Sie zweimal das Studienfach?“

      „Aufgrund meiner Schulkarriere lag die Theaterwissenschaft nahe. Doch nach vier Semestern ging mir die geballte Ansammlung von potentiellen Hollywood-Regisseuren und gefühlten Intendanten auf den Wecker. Auf der anderen Seite der Skala bewegten sich einige wenige analytisch-denkende Studenten, die jedes Theaterstück zerpflückten und zermahlten. Heutzutage sezierten sie als Redakteure von Tageszeitungen die Inszenierungen ihrer ehemaligen Kommilitonen mit chirurgischer Gründlichkeit.

      Kurz schnupperte ich in die philosophische Fakultät, bevor ich mich der Germanistik zuwandte. Statt über dramaturgische Interpretationsversuche von Theaterstücken oder philosophischen Ergüssen im Studentenkreis