»Was heißt denn hier Freundschaft?« Urbach grinste zynisch. »Ihr Freund ist ein Spion, und unser Job ist es, ihn zu kriegen. Er kennt die Regeln. Machen Sie auch mit. Denken Sie, es ist ein Spiel.«
»Menschenjagd ist doch kein Sport«, sagte Schaake, immer noch lahm. »Und außerdem... wer garantiert Ihnen denn, dass ich richtig spiele? Dass ich Ihnen nichts vormache?«
Mehrländer lächelte, plötzlich sorglos und offen. Er spürte, dass er gewonnen hatte.
»Oh, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Herr Urbach verfügt über Erfahrung. – Rufen Sie Professor Hennings an. Wir warten so lange in der Halle.«
II
»Wir werden einige Zeit zusammen verbringen, und Sie werden Geduld aufbringen müssen«, sagte Mehrländer, als sie ihre Unterredung fortsetzten.
Er, Volker Schaake, war dabei. Ohne sich ernsthaft zu wehren, hatte er sich auf ein Spiel eingelassen, das ihn nichts anging. Er hatte mit Professor Hennings telefoniert. Hennings, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Forschung und Technologie, hatte an Schaakes loyale Einstellung zu diesem Staat, dessen Vorteile er genoss, appelliert. Hennings bürgte dafür, dass das Ansinnen Mehrländers an ihn seriös war, und dass es mit Wissen und Billigung der obersten Verfassungsschützer an ihn herangetragen worden war. Hennings hatte durchblicken lassen, dass er vom Staatssekretär im Bundeskanzleramt um seine Unterstützung gebeten worden war. Es war beklemmend zu erfahren, wie weit – oder wie hoch – die Verflechtungen reichten. Er war freigestellt, solange es erforderlich sein würde, sein Gehalt lief selbstverständlich weiter, und um den Fortschritt des Projektes Bilbao kümmerte sich Wessendorf. Hennings hatte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, was er von Schaake erwartete – bedingungslose Mitarbeit im Interesse des Staates...
Mehrländer und Urbach kamen danach schnell zur Sache, wobei das Organisatorische noch den geringsten Raum einnahm. Unter dem Trommelfeuer der Fragen und Anweisungen trat Schaakes Verstand den Rückzug an.
»Unsere eigentliche Arbeit beginnt morgen. Sie werden heute Abend nach München zurückfliegen. Ihrer Frau brauchen Sie wohl keine großen Erklärungen abzugeben, wenn Sie eine Geschäftsreise antreten?«
»Ich komme schon klar.«
»Es kann immerhin sein, dass Sie zwei Wochen nicht zu Hause sein werden.«
»Machen Sie sich keine Gedanken.«
Hatten sie auch in seinem privaten Umfeld herumgeschnüffelt? Er hatte jedenfalls nicht die Absicht, Mehrländer und Urbach von den Gepflogenheiten seiner Ehe zu erzählen.
Unter keinen Umständen, verlangte Mehrländer, durfte er seiner Frau irgendetwas über den wahren Grund seiner Abwesenheit erzählen. Am nächsten Morgen sollte er nach Köln zurückfliegen. Urbach würde ihn abholen.
»Zuletzt haben Sie Ihren Freund Jochen Heller im Jahre siebenundfünfzig gesehen, praktisch bei der Abiturfeier«, sagte Mehrländer.
Volker Schaake überlegte. Noch gab sein Hirn die Erinnerungen nur zögernd frei. Jochen hatte an der Feier gar nicht mehr teilgenommen... Aber er nickte.
»Wir haben Sie ausgewählt, weil Sie ihn am besten gekannt haben dürften.«
Und weil er am leichtesten unter Druck zu setzen war? Da war doch noch Jutta gewesen. Und Rainer. Aber von denen wussten sie wohl nichts. Damals gab es noch keine elektronischen Datenspeicher. Und der Zusammenhalt ihrer Klasse war noch nie besonders eng gewesen. Die Klassengemeinschaft war mehrmals auseinandergerissen und neu zusammengesetzt worden. In der Obertertia, in der Obersekunda, und zuletzt noch einmal in der Unterprima. Jochen und er hatten Glück gehabt. Sie waren nie getrennt worden.
»Sie haben damals doch fotografiert«, sagte Mehrländer, um einen beiläufigen Tonfall bemüht.
»Sie haben sich umgehört«, stellte Schaake fest.
»Ja. Wir waren in Minden, mehrere Tage lang. Leider konnten wir nur noch wenige Ihrer ehemaligen Klassenkameraden aufspüren. Die meisten hat es in alle Winde verstreut, und die wenigen, die wir fanden, konnten sich kaum noch an Heller und Sie erinnern. Wir hatten schon befürchtet, aufgeben zu müssen, aber dann fanden wir doch jemanden, der sich an Sie erinnerte, weil Sie fotografiert hatten, und dann fiel ihm ein, dass Sie und Heller dicke Freunde waren. Heller muss ein verschlossener Typ gewesen sein. Fotografieren war damals noch nicht so verbreitet wie heute.«
»Ich habe damals sogar sehr viel fotografiert. Ich hatte eine eigene Dunkelkammer. Ich habe sie damals alle mit Fotos von Klassenfahrten, Tanzkursen, und was weiß ich, versorgt.«
Schaake schwieg, als er sah, wie Mehrländer und Urbach ihn atemlos ansahen, und er genoss es, sie warten zu lassen. Schließlich räusperte sich Mehrländer.
»Das haben wir gehört. Aber leider haben wir kein einziges Ihrer Werke mehr auftreiben können, kein einziges. Wo haben Sie denn die Erinnerungsfotos an Ihre Schulzeit gelassen?« Mehrländers Stimme klang rau.
Er hatte den großen Koffer mit seiner Dunkelkammerausrüstung und den Negativen im Haus seiner Eltern zurückgelassen. Er hielt eine schnelle Antwort zurück, ließ sich Zeit.
»Ich habe sie alle bei meinen Eltern zurückgelassen«, sagte er. »Nach dem Tod meines Vaters ist meine Mutter zu ihrer Schwester und deren Mann nach Düren gezogen. Wir hatten ein großes Haus in Minden. Meine Mutter musste viel zurücklassen. Sie hat alles, was sie nicht mehr brauchte, auf den Sperrmüll gegeben. Meine Fotos waren dabei, und sämtliche Negative.« Und viele andere Dinge, an denen Erinnerungen hingen - Zeitungsausschnitte, Zeitschriften, Siegerurkunden. Er hatte sich um nichts kümmern können. Gleich nach der Beerdigung, noch am selben Tag, hatte er nach Afrika zurückfliegen müssen, wo im ehemaligen Spanisch-Sahara eine Phosphat-Förderanlage abgenommen werden musste.
»Schade«, sagte Mehrländer flach. »Ein gutes Foto von einem engagierten Amateur hätte unsere Arbeit sehr erleichtert. Und zu Hause? Haben Sie da keine Fotos mehr aus Ihrer Jugendzeit?«
Er dachte an die vier dicken, in verschiedenfarbiges Leder gebundenen Alben, die im Schrank seines Arbeitszimmers standen. Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe alles im Haus meiner Eltern zurückgelassen. Ich habe das Fotografieren erst wieder angefangen, als ich schon verheiratet war.«
Er hielt Urbachs Blick stand. Urbach schien genau zu spüren, dass er log, aber es schien ihm nichts auszumachen. Aber warum log er? Er wusste es nicht, nicht zu diesem Zeitpunkt. Wollte er Zeit gewinnen? Sich eine Hintertür offenhalten? Er musste nachdenken. Ein Foto konnte er ihnen immer noch geben.
*
In Köln hatte er noch die Maschine um 16 Uhr 10 erwischt, und so war es erst halb acht, als er seinen BMW vor dem Reihenhaus in Haar bei München anhielt. Gerd, der zusammen mit ein paar Freunden aus der Nachbarschaft weiter unten auf der Straße mit seinem Fahrrad herumfuhr, kam auf ihn zugerast und begrüßte ihn stürmisch. Der Zwölfjährige sah verschwitzt aus, und am Hals und an den Armen und Knien bemerkte Schaake Schrammen, die gestern noch nicht dort gewesen waren. Gerd packte die Hand seines Vaters und zerrte ihn ins Haus.
Udo begrüßte seinen Vater erst drinnen. Das bedächtigere Temperament des Fünfzehnjährigen erlaubte weder stürmische Gefühlsausbrüche, noch hastige Bewegungen.
»Hast du uns etwas mitgebracht?«, schrie Gerd.
Schaake lachte. »Ich war doch gar nicht richtig weg!«
»Trotzdem! Du bringst uns doch immer was mit!«
»Das nächste Mal, dann ganz bestimmt.«
»Wann verreist du denn wieder?«
Schaake versetzte es einen Stich. »Morgen.«
»Und wie lange?«
»Das weiß ich noch nicht. He, lass mich mal.« Er trat auf Heike zu, die in der Küchentür stand, lächelte, und ihm die Wange hinhielt.
»Du