Stille(r)s Schicksal. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847662884
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Anne kam sich vor wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Bei diesem Gewimmel, dem Schieben und Drängen dauerte es seine Zeit, bis jeder seinen richtigen Platz im richtigen Bus gefunden hatte.

      Erst, als auch das letzte Gepäckstück im riesigen Bauch des Busses verschwunden war, entspannte sich die Situation. Der höllische Lärm, hervorgerufen von aufgeregten Verständigungsversuchen in verschiedenen Sprachen, verebbte.

      Die darauffolgende Ruhe empfand Anne als angenehm, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.

      Auch Carlos, er hatte sich als der Schwiegersohn des Hotelchefs vorgestellt und sich gleich darauf in den Sitz gleiten lassen, um vor sich hin zu dösen, wirkte völlig entspannt.

      Warum sollte er auch aus dem Fenster schauen, dachte Anne, er kannte hier schließlich jeden Stein und jeden Strauch. Sie selbst war zum ersten Mal auf Teneriffa und schaute erwartungsvoll aus dem Fenster. Doch, was sie sah, enttäuschte sie, denn Steine gab es unglaublich viele, ein paar vereinzelte dürre Sträucher. Aber Bäume? Sie konnte jedenfalls nirgendwo welche entdecken. Die Landschaft war karg und erinnerte sie trotz der Felsen an einen stillgelegten Tagebau in ihrer Lausitzer Heimat. Grünes war kaum zu sehen, und wenn, dann höchstens als Aufdruck auf herumliegenden Getränkebüchsen. Überhaupt machten die Straßen einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Die einzigen Pflanzen (es schienen Tomaten zu sein), die es hier zu entdecken gab, wuchsen in langgestreckten Folienzelten.

      Anne schaute sich um und glaubte, auch auf den Gesichtern ihrer Mitreisenden eine gewisse Enttäuschung erkennen zu können.

      "Mann, sind wir denn hier auf einer Müllhalde gelandet?"

      Der junge Mann neben ihr guckte genauso entgeistert wie sie, als er die herumliegenden Bierbüchsen sah, die entweder den Touristen oder den Einheimischen einfach aus den Händen gefallen waren. Anne erkannte die Stimme aus dem Flugzeug, ließ sich aber nichts anmerken. Sie drehte sich nicht einmal nach ihm um.

      Plötzlich entdeckte sie eine grüne Oase, freute sich unbändig, dass ihr Bus geradewegs darauf zu rollte.

      Es gab dort nicht nur richtigen Rasen in saftigem Grün, ein paar riesige Palmen, mehrere überdimensionale Gummibäume und dann diesen phantastischen Roseneibisch. Sein Anblick verschlug ihr den Atem. Etwa drei Meter hoch reckte er seine Äste, von unzähligen Blüten übersät, deren leuchtendes Rot vor der dicken grauen Mauer besonders gut zur Geltung kam. Mit ihrem Hibiskus auf dem Fensterbrett zu Hause hatte dieser hier lediglich die Farbe der Blüten gemeinsam.

      Die Leute waren mehr oder wenig eilig aus dem Bus geklettert, doch Anne saß noch immer auf ihrem Platz und hatte nur Augen für den Hibiskus.

      "Ach, ist der schön!" Sie wandte sich um, aber der junge Mann, der unterwegs gestöhnt und gefragt hatte, ob sie denn hier auf einer Müllhalde gelandet seien, war schon weg.

      Anne stutzte. Sie war die Letzte. Schnell sprang sie auch aus dem Bus und lief den anderen hinterher.

      Überraschung im Zimmer Nummer Dreizehn

      "Guten Tag, Sie sind Frau Hellwig, ja?"

      Also, nach Spanien klang das nicht, dachte Anne, eher nach Deutschlands Küste, entweder Nord- oder Ostsee. Anne mochte diese saubere Aussprache.

      Die Formalitäten waren schnell erledigt.

      "Hier bitte, Ihr Zimmerschlüssel und der Hotelausweis."

      Jetzt fiel es ihr wieder ein: Sie hatte gelesen, dass das Hotel von einem Hamburger Ehepaar geführt wurde. Das schien also die Chefin zu sein. Sie war in mittleren Alter, etwas füllig und strahlte eine gewisse Mütterlichkeit aus.

      Anne schaute auf den Schlüsselanhänger und trat zur Seite.

      "Nummer Dreizehn? Na, wenn das kein gutes Zeichen ist!"

      Doch eine ältere Dame, die aufgeregt etwas zu suchen schien, hatte dazu wohl eine ganz andere Meinung.

      "Dreizehn? Um Himmels willen", rief sie aus und schlug die Hand vor den Mund, "das kann doch kein gutes Zeichen sein, Fräulein! Mir hat diese vertrackte Zahl wirklich immer nur Unglück gebracht. Es ist ja seltsam, dass es in diesem Hotel überhaupt ein Zimmer mit so einer Nummer gibt", nörgelte sie weiter, bis ihr Blick auf die Handtasche fiel, die mit einem Riemen am Koffer befestigt war.

      "Ach, da ist ja das vertrackte Ding", rief sie plötzlich erfreut aus, ihr Ärger schien vergessen zu sein, denn ihr rosiges Apfelgesicht wurde von einem breiten Lächeln zerfurcht. Anne zwinkerte ihr zu.

      Andere waren weniger gut gelaunt, sie beschwerten sich lautstark, dass sie kein Zimmer mit Meerblick bekommen hätten.

      "Bei dem Preis ist das doch wohl das Mindeste!"

      Der arrogante Ton ging Anne auf die Nerven, doch gleich darauf besann sie sich: Die sind eben genauso urlaubsreif wie ich, dachte sie versöhnlich.

      Die alten Hasen waren sofort zu erkennen, nicht nur an ihrer gesunden Bräune, sondern auch an ihrer gelassenen Neugier, mit der sie die nervösen Neuankömmlinge bemusterten.

      Ein älterer Herr in Shorts, Turnhemd und Strohhut meinte im Fahrstuhl zu seiner Gefährtin: "Weißt, Leni, in Deutschland scheint´s Frühling geworden zu sein. Könne mär oigentlich hoimfohre."

      Leni, es war schwer zu sagen, ob es sich um seine Frau oder seine Tochter handelte, nickte zustimmend während sie versuchte, ihren Fuß unter Annes Reisetasche hervor zu ziehen.

      "Oh, Verzeihung", Anne lächelte schuldbewusst und zog schnell die Tasche etwas beiseite.

      Leni dankte ihr mit einem hoheitsvollen Nicken.

      Endlich im Zimmer mit der Nummer Dreizehn.

      Anne ließ die Reisetasche einfach fallen, öffnete das Fenster und trat auf den Balkon hinaus, freute sich über den herrlichen Ausblick und die frische Brise, die vom Meer herüber wehte. Ihr Blick fiel auf den wunderschönen Hibiskus, der sie schon bei ihrer Ankunft verzaubert hatte, auf Hochbeete, in denen Blumen rankten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte: kleine, dickfleischige, dunkelgrüne Blätter an ebenso dicken Ranken, ab und zu eine Blüte, die dem heimischen Gänseblümchen nicht unähnlich war, nur eben von einem kaum zu übertreffenden, leuchtenden Rot.

      Und weiter vorn, gleich hinter der felsigen Mauer, brandete der Atlantische Ozean. Links hinter den Palmen und dem Swimmingpool hatten wohl die Surfer ihr Domizil. Einige ließen sich von den Wellen tragen, andere saßen an den weißen Tischen oder im schwarzen Sand, tranken etwas oder unterhielten sich einfach. Es war ihnen schon von weitem anzusehen, dass sie ihren Urlaub genossen.

      Genau das hatte Anne jetzt auch vor.

      "Erst mal unter die Dusche, dann in den Badeanzug - hinunter zum Strand und ab ins kühle Nass", dachte sie wieder einmal laut, denn es hörte sie ja niemand.

      Sie wollte an nichts mehr denken, sich in die tosenden Wellen stürzen und ein Stück hinaus schwimmen.

      Doch als die junge Frau ihre Tasche öffnete, erschrak sie. Das waren doch nicht ihre Sachen! Hosen, Rasierwasser, T-Shirts, oh Gott, offensichtlich die Tasche eines Mannes. Da war ja auch ein Schild. Sven Stiller las Anne und zu ihrer Überraschung war dieser junge Mann auch noch aus Klarwasser. Er wohnte gar nicht weit von ihr, in der Kastanienallee. Siedend heiß wurde ihr, als sie daran dachte, dass das wohl der Typ sein musste. War das etwa der Typ im Trabbi mit dem gleichen Kennzeichen? Erst hatten sie ihn überholt, dann war ein Weilchen hinter ihnen gefahren, aber bald war er nicht mehr zu sehen gewesen. Wie hätte das kleine Kultauto auch mit Dieters Opel mithalten sollen?

      Sven also, Sven Stiller. Aber so still kam er ihr nicht vor, denn wenn sie sich richtig besann, war er es doch auch, der ihr im Flugzeug gewünscht hatte, dass sie gut schlafen und schön träumen möge. Und im Bus hatte er etwas von einer Ankunft auf der Müllhalde geredet. Und dann war er plötzlich verschwunden gewesen, als sie ihm ihre Freude über den herrlichen Hibiskus hatte mitteilen wollen.

      Aber wie er eigentlich richtig aussah, hätte sie nicht mehr zu sagen gewusst. Anne hatte an diesem Tag einfach zu viele Leute gesehen