Stille(r)s Schicksal. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847662884
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das Schneetreiben wahr. Sogleich spürte sie wieder die wachsende Vorfreude auf die südliche Sonne und das Meer.

      Dieter Ebert nickte nur, ohne aufzusehen. So ganz sicher war er sich eben keinesfalls, dass er nicht doch eventuell mit Anne …. Aber das brauchte sie nicht zu wissen, er wagte es ja selbst kaum, diesen Gedanken zu Ende zu bringen.

      Die Sekretärin steckte ihren blonden Lockenkopf auch beim Chef noch einmal zur Tür hinein.

      "Brauchen Sie mich noch, Herr Biesold? Ich würde sonst gehen."

      "Nein, nein, gehen Sie nur. Schön, dass Sie sogar noch an die Serviceseite für Montag gedacht haben. Da hat Ihre Vertretung am Sonntag etwas weniger Arbeit. Ach, einen schönen, erholsamen Urlaub wünsche ich Ihnen natürlich! Kommen Sie gesund wieder!"

      Horst Biesold stand tatsächlich auf und zwängte sich mit seiner ganzen Fülle mühsam hinter seinem Schreibtisch hervor. Einige, über den Rand des Tisches hängende Manuskripte, flatterten zu Boden. Anne staunte, wie behände er die Blätter aufhob. Unbeachtet warf er sie auf den Tisch, um sich mit Handschlag von seiner Sekretärin zu verabschieden.

      Noch auf der Treppe rieb sich Anne die schmerzenden Finger, wunderte sich über das seltsame Gebaren ihres Chefs. Biesold war ihretwegen aufgestanden? Das hatte es ja bisher noch nie gegeben!

      Und wie meinte er das mit dem gesund wiederkommen? Ahnte oder wusste er gar etwas? Sie war sich doch eigentlich sicher gewesen, dass weder er noch die Kollegen etwas von ihren unerträglichen Schmerzen wissen konnten.

      Während der Heimfahrt merkte nicht einmal sie selbst etwas davon. Vielleicht lag das an den neuen Tabletten - vielleicht aber auch an der Vorfreude, die alles Unangenehme aus ihrer Wahrnehmung ausblendete. Und wenn das so war, dann könnten Urlaubsfreude und Meeresklima ja vielleicht wirklich helfen, wieder richtig gesund zu werden? Oh nein, nur nicht zu euphorisch werden, Anne, rief sie sich innerlich zur Ordnung.

      Obwohl: Ihre Hausärztin hatte unlängst ähnliche Hoffnungen geäußert. Vielleicht würde ja nach dem Urlaub sogar der geplante Besuch bei einem Spezialisten überflüssig sein? Anne fühlte sich wieder einmal innerlich völlig zerrissen und erschrak, als sie bemerkte, wie sie auf die Gegenfahrbahn rutschte.

      Neumaiers Straßentheater

      Anne fasste das Lenkrad ihres roten Polo fester, reckte den Hals und hielt nach einem Parkplatz Ausschau.

      Doch sie musste wieder und wieder zwischen den Neubauten umherfahren, bis sie fündig wurde. Den Rest des Weges würde sie zu Fuß gehen müssen. Doch sie würde gern die paar hundert Meter bis zu dem Würfelhaus, in dem sie wohnte, laufen. Von den paar Schneeflocken auf ihrem Gesicht würde sie sich ihre Urlaubsvorfreude nicht nehmen lassen. Im Gegenteil! Sie versuchte mit dem Mund ein paar Flocken aufzufangen und lächelte.

      Sie hatte einmal gelesen, dass selbst ein künstlich vor dem Spiegel eingeübtes Lächeln Glückshormone freizusetzen vermochte. Sie lächelte also noch ein wenig breiter, ohne einen besonderen Grund dafür zu haben, mal abgesehen von der Sehnsucht nach Endorphinen.

      Das Lächeln war auch noch in ihrem Gesicht, als sie festen Schrittes losging.

      Das freute keinen mehr als Opa Neumaier, der mit seinen massigen Brustkorb auf dem Fenstersims lehnte. Diese junge Frau war ihm schon lange aufgefallen, so zart und frisch, wie sie immer aussah - und ein freundliches Wort hatte sie auch stets für ihn übrig gehabt. Er wusste, dass sie als Sekretärin bei der Lokalredaktion arbeitet, wo Überstunden anscheinend an der Tagesordnung waren.

      "Na, Fräulein Hellwig, ist heute mal wieder spät geworden", sprach er sie nun direkt an. "Da gibt es wohl an ihrem Haus keinen Parkplatz mehr?"

      Er wusste auch, dass die junge Frau in dem ersten Würfelhaus hinten am Park wohnte.

      Opa Neumaier schob seinen mächtigen Oberkörper noch weiter über die Fensterbank, damit ihm auch ja nichts von den Geschehnissen in seiner Straße entging. Die Geschehnisse dort zu verfolgen, war für ihn so eine Straßentheater, meist spannend und sehr unterhaltsam, was eine erstaunlich belebende Wirkung auf ihn ausübte.

      Außerdem durfte er im Wohnzimmer nicht rauchen. Aber hier hatte seine Frieda nicht einmal etwas dagegen, wenn er mit einer schnellen Bewegung seines Zeigefingers die Asche unauffällig in die Sträucher vor seinem Fenster schnippte.

      Anne winkte dem Rentner zu: "Ja, ist halt schwierig mit den Parkplätzen. Zum Einkaufen bin ich auch wieder nicht gekommen, aber alles halb so schlimm! Ich habe ja jetzt Urlaub!"

      Noch immer grub das Lächeln kleine Grübchen in ihre Wangen.

      Franz Neumaier wollte diesen Anblick noch wenig genießen und fragte deshalb rasch, noch ehe sie womöglich um die Ecke verschwunden war: "Wo soll´s denn hingehen im Urlaub?"

      Der alte Mann machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Neugier zu verbergen und lehnte sich erwartungsvoll immer weiter hinaus, während er sich gewohnheitsmäßig über die Stelle am Kopf strich, an der früher einmal eine prächtige Frisur gewesen sein könnte. Jetzt allerdings versuchte er schon seit Jahren, seine paar grauen Strähnen sorgfältig und vor allem gleichmäßig auf der ansonsten spiegelblanken Glatze zu verteilen.

      Es muss schwierig sein, neun Haare in sieben Reihen aufzuteilen, dachte Anne belustigt. Doch laut und ein bisschen leichthin sagte sie: "Ach, wissen Sie, Herr Neumaier, ich bin einfach reif für die Insel. Ich fliege am Sonntag nach Teneriffa." So hatte sie nicht nur das Ziel ihrer Reise kundgetan, sondern auch gleich noch den Zeitpunkt. Denn das Wann hätte bestimmt in seiner nächsten Frage gesteckt. Sie aber war heute nicht mehr aufgelegt für sein geliebtes Frage- und Antwortspiel.

      Sie drehte sich nur noch ein einziges Mal um, bevor sie in die nächste Querstraße einbog. Dabei stellte sie überrascht fest, wie eilig der Opa es mit einem Mal hatte. Im Nu hatte er das Fenster geschlossen und die Gardine vorgezogen.

      Anne konnte natürlich nicht ahnen, dass sie mit ihrer schlichten Auskunft bei den Neumaiers gehörig für Gesprächsstoff gesorgt hatte.

      "Diese jungen Leute", schimpfte Neumaier mürrisch vor sich hin, "die müssen ein Geld haben! Frieda, stell dir mal vor, die kleine Hellwig fliegt nach Teneriffa! Muss wohl von ihren Eltern etliches geerbt haben, als die voriges Jahr bei dem Verkehrsunfall umgekommen sind."

      Seine Frau saß wie immer um diese Zeit auf dem Sofa, eingehüllt in ihre unvermeidliche, blau-weiß geblümte Nylon-Kittelschürze, und reagierte, auch wie immer, wenn er sie mitten in einem komplizierten Strickmuster ansprach. Nämlich überhaupt nicht. Sie zählte in aller Seelenruhe ihre Maschen weiter: "23-24-25-26." Dann legte sie das angefangene Vorderteil des grünen Pullis zur Seite, quälte sich mühsam aus der Tiefe der Couch in den Stand, humpelte zum Fenster und zog auch noch die Vorhänge zu.

      "Alles machst du bloß halb", knurrte sie. Ihre Stimme war in den letzten zehn Jahren immer tiefer geworden. Ein vorwurfsvoller Blick traf ihren Mann. "Sollen uns die Nachbarn auf den Tisch gucken können? Es gehört zur Ordnung, dass man auch die Übergardinen zuzieht, wenn es draußen dämmrig wird."

      Und dann, plötzlich und übergangslos, also hatte sie seine Worte von vorhin doch gehört, schniefte sie verächtlich: "Teneriffa! Na und, lass´ sie doch fliegen, die kleine Hellwig. Wird schon sehen, was sie davon hat!"

      Sie mochte dieses junge Ding nicht. Trug immer so kurze Röcke, fuhr mit zweiundzwanzig schon Auto! Und ein rotes noch dazu! Wo hätte es das zu ihrer Zeit gegeben! in dem Alter hatte man einen Kinderwagen zu schieben!. Aber heutzutage lebten ja offenbar sowieso viele in einer verkehrten Welt. Das sagte sie jedem, der es hören wollte und den anderen, die es nicht hören wollten.

      "Und außerdem," wandte sie sich nun wieder an ihren Mann, "du warst doch auch schon mal im Süden, damals, in Italien. Und mich zieht es da nicht hin ... zu den Makkaronis."

      Doch Franz hörte gar nicht richtig hin, schaute, Gott ergeben, zu Boden, zuckte die Achseln und seufzte. Gewohnheitsmäßig griff er sich die Zeitung, als seine Angetraute wieder mit den Stricknadeln zu klappern begann, aber er kam einfach nicht so richtig zum Lesen. Immer