In grauen Zonen. Christian Toepffer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Toepffer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738031447
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Weder die Zivilisten noch der Volkssturm hatten Lust auf einen Endkampf, aber keiner traute sich, das zu sagen oder gar etwas dagegen zu unternehmen. Die Drohungen der Nazis gegen alle Feiglinge, die am Endsieg zweifelten, hatten gewirkt.

      Nur bei Tante Emmi nicht. Auf der Landstraße rückten englische Panzer heran. Die Zivilisten versteckten sich im Keller, Eberhard war eingezogen und und kommandierte irgendein fernes Depot, in dem Pferde für die Wehrmacht trainiert wurden, und Luise war zu verwirrt, um irgendeinen Entschluss zu fassen. Jetzt kam es auf sie, auf Emmi an. Sie hängte weiße Bettlaken aus den Fenstern, nahm zwei weiße Tücher in die Hand und gab eins davon Agnes, die müsse, Schwangerschaft hin oder her, wegen ihrer guten Englischkenntnisse mit. Die beiden kletterten durch die Lücken in der Sperre, Emmi sagte „Gott behüte uns“, und sie gingen auf die Panzer zu. Sie hatten fürchterliche Angst: Zwar war es ja eigentlich jenseits aller Vorstellungskraft, dass die Engländer von vorn oder der Volkssturm von hinten auf sie schießen würden, aber schließlich waren sie ja gerade durch Vorgänge in diese Lage gekommen, die man sich ebenfalls nicht hatte vorstellen können. Überdies wusste Agnes nicht, was sie sagen sollte.

      Glücklicherweise redete ein Engländer zuerst und befahl ihnen, die Sperre sofort räumen zu lassen, alle Waffen in der Einfahrt abzulegen und sich mit erhobenen Händen im Hof zu sammeln. Falls nicht, würden sie das Feuer eröffnen und Flugzeuge anfordern. Sie kehrten zurück, Emmi holte tief Luft und sprach zu den Männern: “Ihr legt jetzt eure Waffen hier hinter der Dreschmaschine aufeinander, dann zieht ihr die zur Seite, sodass die Engländer den Haufen sehen können. Wer will, kann dann durch das hintere Tor verschwinden, während wir den Rest der Sperre wegräumen.“ Da es so offensichtlich mit den Nazis zu Ende ging, hielt man sich wieder an die alte Autorität einer Gutsherrin, der Volkssturm gehorchte und verschwand.

      Die Engländer kamen vorsichtig herein und durchsuchten alles. In der Halle fiel ihnen unter einem Ahnenbild ein Säbel auf, ein Offizier nahm ihn herunter und sah Emmi scharf an: „No weapons!“ Emmi sagte schnell etwas zu Agnes, die übersetzte: „This sabre was presented by the Duke of Wellington to our ancestor for his gallantry in the battle of Waterloo, please read the engraving.“ „I told you that you have to surrender all weapons. You must learn to obey our orders. And no nonsense!“ Offensichtlich wollte der Offizier den Säbel jetzt erst recht behalten. Die Soldaten nahmen sich ein Beispiel und stibitzten alles, was wertvoll erschien und nicht vorher noch versteckt worden war.

      Zuerst überwog bei allen das Gefühl, doch noch ganz gut davongekommen zu sein, aber später redete man eher über die Diebereien. Eine Flüchtlingsfrau meinte sogar, Tante Emmi hätte diese eigentlich verhindern müssen. Tante Luise konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass deutsche Soldaten stehlen könnten. Als darauf Karl auf die Mitbringsel seines Bruders aus Frankreich, Cognac, Champagner und Parfum, zu sprechen kam, wies ihn seine Mutter zurecht, das sei bezahlt gewesen und französisches Parfum sei ohnehin zu aufdringlich, deutschen Frauen reichten Wasser und Seife vollständig. Sie hatte sich allerdings noch kurz vor dem Krieg, als importierter Luxus schon knapp wurde, mit einem großen Vorrat feiner englischer Seife eingedeckt. Auch diese Erzählungen von Ereignissen, die sich noch vor seiner Geburt zugetragen hatte, merkte sich Georg gut.

      Die Gegenwart war von der Vergangenheit geprägt, und vor ihnen lag eine Zukunft, in der alles besser werden würde. Aber es gab auch Jahreszeiten und Feste, die sich immer wiederholten. Der Winter brachte zwar Abwechslungen wie Schlittenfahren und Glitschen auf dem Eis des Fischteichs, aber Georg fror meistens. Er traute sich nicht, zu klagen, weil Tante Luise seine Mutter ermahnte, ein deutscher Junge müsse abgehärtet werden. Es wurde, wenn überhaupt, dann nur mit Sägespänöfen geheizt. Die Späne wurden vom Sägewerk geholt und um einen Holzstamm entlang der Achse eines eisernen, aufrecht stehenden Zylinders fest gestampft. Dann wurde der Holzstamm vorsichtig herausgezogen, sodass ein Kamin entstand, der Ofen wurde verschlossen und unten angezündet. Mit Glück gab es dann für einige Zeit eine große Hitze rund um den Ofen, aber allzu oft ging das Feuer bald wieder aus, manchmal fehlte der Luftzug, weil eben doch Späne in den Kamin gestürzt waren, oder die Sägespäne waren noch zu feucht.

      Ein Lichtblick war Weihnachten. Weil sich Georg auf seinen Spaziergängen mit seinem Onkel sehr für die Züge interessierte, die durch das Tal fuhren, bauten die Vettern für ihn, aber auch für sich selber, in ihrem Zimmer die Märklin-Eisenbahn auf, die vor dem Krieg angeschafft worden war. Georg kannte schon Spielzeuge, die durch vorher gespannte Weckgummis angetrieben wurden, und Uhrwerke, die man aufziehen musste. Die liefen aber nicht lange. Diese Lokomotive lief mit elektrischem Strom so lange man wollte. Georg wunderte sich, dass man dafür zwei Leitungen brauchte. Die Vettern brachten ihr Schulwissen an: Man muss einen Stromkreis schließen, irgendwo steht ein Kraftwerk, eine Fabrik, die den Strom durch die Lokomotive und durch alle anderen elektrischen Geräte pumpt. Durch die eine Leitung fließt der Strom hinein, durch die andere wieder heraus zum Kraftwerk. Karl wusste noch mehr: „Alles geschieht in Kreisläufen: Das Vieh lebt vom Futter und macht Mist. Den bringen wir dann auf die Felder, damit das Futter besser wächst. Und die richtigen Lokomotiven brauchen Kohle, wenn die verbrennt, entsteht ein Gas, das die Pflanzen zum Wachsen brauchen. Aus den Pflanzen entsteht dann wieder neue Kohle, aber das dauert viele Millionen Jahre.“ Georg galt zwar als Pfiffikus, aber Millionen gehörten noch nicht zu seinem Zahlenraum, er wusste nur, dass das sehr, sehr große Zahlen waren. Das war beruhigend, er hatte natürlich verwelkende Pflanzen gesehen, aber nie welche, die sich in Kohle verwandelten.

      An Silvester durfte Georg mit den Anderen aufbleiben, er kämpfte mächtig mit der Müdigkeit. Aber endlich ging man auf den Hof, ein Posaunenchor spielte einen Choral und die Glocken läuteten. Ein neues Jahr fing an, die Eisenbahn wurde wieder abgebaut und sorgfältig verpackt, und als Trost bekam Georg alte Märklin-Kataloge als Bilderbücher. Darin gab es nicht nur Eisenbahnen, sondern auch Dampfmaschinen und Autos, sogar einen Dreiachser, den Wagen des Führers, und für die Mädchen Kochherde.

      Gegenüber Fabeltieren wie den Osterhasen aus der „Hasenschule“ hegte Georg gesunden Zweifel. Im Frühling sah er beim Spazierengehen mit Onkel Eberhard viele Hasen und Kaninchen. Onkel Eberhard meinte, es seien viel zu viele, weil in den letzten Jahren zu wenige abgeschossen worden seien. Die Deutschen dürften nicht jagen und die Engländer schössen lieber größeres Wild. Aber auch das würde sich jetzt ändern, und darauf freue er sich. Osterhasen konnte es also nicht geben, denn Georg hielt es für ausgeschlossen, dass der Onkel auf sie schießen könnte. Auch in Tante Emmis Andachten war zwar viel von Ostern, aber nie von Hasen oder Ostereiern die Rede. Umso mehr freute er sich auf das Suchen der Eier, die bei gutem Wetter draußen und sonst im Schloss versteckt waren. Er hatte einen guten Spürsinn und fand mehr als die Anderen, zum Schluss allerdings wurden dann die Eier und auch einige Schokolade an alle gleich verteilt. Georg fand das nicht ganz gerecht, freute sich aber, wenn er als bester Sucher gelobt wurde.

      Die Schokolade bekamen sie von der früheren Gouvernante seiner Mutter aus der Schweiz. Weniger mochte Georg eine ihm ebenso unbekannte Freundin seiner Mutter aus Norwegen. Die schickte Lebertran, der scheußlich schmeckte, aber angeblich unbedingt notwendig für ihn sei, damit er groß und stark würde. Statt sich zu ekeln, solle er lieber dankbar sein, dass sie so gute Beziehungen hätten. Tante Luise hielt von solchen Überredungsversuchen wenig, sie packte sich Georg, zwängte ihn zwischen ihre Knie, hielt ihm die Nase zu, bis er der Mund aufmachte und sie ihm einen Löffel einflößen konnte. Georg fühlte, dass solch entschlossene Gewaltanwendung die Mutter noch mehr demütigte als ihn selber und ließ sich fortan den Tran doch lieber von seiner Mutter verabreichen.

      Sobald es im Frühjahr grün wurde, sammelten die Kinder an den Feldrainen frisches Gras für die Kaninchen, die von der Familie, den Flüchtlingen und den Arbeitern in roh gezimmerten vergitterten Ställen gehalten wurden. Was kriegten die im Winter? Die Stallhasen hielten doch keinen Winterschlaf? Oder wurden sie im Herbst geschlachtet? Und dann? Einfrieren gab es damals nicht. Vermutlich gab es trotz aller Sparsamkeit noch allerlei Küchenreste, Kohlstrünke und ähnliches. Jedenfalls fraßen sie uns das frische Gras aus der Hand, und wir taten was Nützliches. Später wurden Maikäfer gesammelt und gezählt, auch dabei gab es Sieger und Verlierer. Die Hühner waren ganz wild auf die Käfer, aber nachdem entdeckt wurde, dass der plötzlich auftretende unangenehme Geschmack der Eier von einem Übermaß dieser Kost herrührte, wurde das verboten.

      In