4. Im Archiv
Seine Erinnerungen beginnen in einem Raum mit seinem Kinderbett und dem Bett seiner Mutter. Dann war da noch ein Wandschirm, hinter dem sich seine Mutter abends aus- und morgens anzog. Das Zimmer war immer dunkel, an den Wänden waren Schränke eingebaut, bis zu seiner Höhe mit Holztüren, darüber gab es Glastüren, dahinter standen Bücher. Es war ihm streng verboten, die Schränke zu öffnen, später lernte er, dass da allerlei Urkunden, Manuskripte und andere Papiere lagen, die als wichtig oder sogar als wertvoll erachtet wurden. An die Glastüren kam er ohnehin nicht heran. Wo sie ihre Sachen aufbewahrten, wusste er nicht mehr, es wird auch nicht viel gewesen sein. Auch an eigenes Spielzeug erinnerte er sich nicht, aber er konnte das kaum als Mangel empfunden haben.
Die Umgebung war Spielplatz genug. Vor dem Fenster lag eine große Wiese um ein verwildertes Rosenbeet herum. In besseren Zeiten war das ein Park gewesen, der durch einen Wassergraben von den Feldern dahinter abgegrenzt war. In dem Graben gab es Krebse, die von den geschickteren Jungen gefangen wurden, Georg begnügte sich eher mit Weißfischen, die waren zwar glitschig, aber konnten nicht kneifen. Auf den ziemlich verunkrauteten Wegen ritzten die Kinder Vierecke und Kreise in den Sand und spielten Hüpfspiele. In einer Ecke des Parks standen hohe, alte Bäume und Sträucher, dort konnte man Verstecken spielen. An einem Ast hing eine Schaukel, die Georg gerne und sehr ausgiebig benutzte, solange keines der anderen Kinder schaukeln wollte. Daneben gab es noch ein Kletterseil, die kräftigeren Jungen und sogar ein Mädchen schafften es auch, da hochzuklettern. Nach seinem ersten eigenen, erfolglosen Versuch übte Georg heimlich, aber er schaffte es nicht und gewöhnte es sich an, sich unter einem Vorwand zu entfernen, wenn beim Spielen Klettern angesagt wurde.
Auf der anderen Seite des Schlosses erstreckte sich ein Hof mit einer großen Linde bis zu den Wirtschaftsgebäuden, dem Pferdestall – ein Pferd gehörte seiner Mutter und ihm –, dem Kuhstall und dem Schweinestall, den Scheunen, einigen Misthaufen und allerlei Schuppen für die Dreschmaschine, die Gulaschkanone und andere Landmaschinen, darunter auch der Lanz-Bulldog, mit dem sie aus Schlesien geflohen waren. Der Hof war unbefestigt bis auf gepflasterte, meistens unter Matsch verschwundene Verbindungen von den beiden Hoftoren zur Schlosstür. Vor diesen Toren lagen steinerne Brücken, eine führte über einen Bach, an dem eine Wassermühle lag, zur Landstraße, die andere über den Wassergraben, der das ganze Gut umgab, auf die Felder und in den Wald. Dort floss ein Bach, die Kinder bauten Staudämme aus den herumliegenden Steinen, die Ritzen wurden mit Moos abgedichtet. Sie bauten nicht gemeinsam, sondern jeder für sich, und Georg war stolz darauf, dass sein Damm der schönste war. Die beiden bewaldeten Hügelzüge, die das Tal säumten, erschienen dem Jungen als hohe Berge. Vom Fenster des Archivs aus sah er, wie die beiden Rücken in der Ferne zusammenliefen. Dort schien die Welt zu Ende.
Ihre Zimmertür öffnete sich auf einen Gang, daneben lag ein Badezimmer mit frei stehender Eisenwanne und ein Klo, beides ungeheizt. Er war froh, dass er das auch nachts leicht erreichen konnte, denn er hasste die Nachttöpfe seiner Vettern und Kusinen. Die schliefen auf der anderen Seite des Gangs in zwei großen Sälen, in denen bei schlechtem Wetter auch gespielt wurde. Der Gang mündete in eine große Halle. Dort standen ein riesiger, noch weiter ausziehbarer Esstisch, ein Flügel, ein Billardtisch mit gerissenem Bezug und eine Unmenge von Stühlen – alles sehr geeignet, um „Reise nach Jerusalem“ zu spielen. Es wurde viel musiziert, aber Georg war es streng verboten, auf dem Flügel zu klimpern. An den Wänden hingen Bilder der Vorfahren. “Ja, Georg, schau ihn dir nur an, deinen Urgroßvater, dem verdankt ihr es, dass ihr hierher kommen konntet“, sagte Tante Luise. Eine breite Treppe führte in den ersten Stock mit den Wohn- und Schlafräumen von Onkel Eberhard und Tante Luise. Aber wie für sie selber im Erdgeschoss war auch hier und im Obergeschoss unter dem Dach Platz für ausgebombte oder aus dem Osten geflüchtete Verwandte frei gemacht worden.
Die Wirtschaftsräume und die oberen Stockwerke waren für die Kinder verboten – mit einer Ausnahme: Um sieben Uhr wurde mit einer Glocke geklingelt, und man versammelte sich im Wohnzimmer von Tante Emmi zu einer Morgenandacht: Lesung aus der Bibel und Singen eines Chorals mit Klavierbegleitung. Georg verstand das alles nicht recht, nahm es aber als unbedingt zum Tageslauf gehörig hin. Es freute ihn auch, wenn Tante Emmi ihn für seine Teilnahme lobte und ihn gar ihren eigenen Enkeln als Vorbild empfahl. Besonders glücklich war Georg, wenn er einen Platz ergattern konnte, von dem aus er die Engstelle am Ende des Tales beobachten konnte. Durch die verlief eine Nebenstrecke der Eisenbahn. Fahrplan und Andacht waren so gut aufeinander abgestimmt, dass Georg während der Lesung die ersten Dampfwolken über den Hügeln sah und dann beim Singen den Zug selber, wie er durch die Engstelle herandampfte. Es gab also offensichtlich eine Welt hinter dem Tal.
Irgendwo musste da auch Schlesien liegen, wo sie her kamen. Und es musste außer den Menschen auf dem Gut, den Verwandten, den Flüchtlingen wie den Goldbergs, der Köchin, dem Dienstmädchen und den Arbeitern noch andere geben. Die Leute auf der Landstraße, die Lokomotivführer und die englischen Soldaten. Sein Vater allerdings war nicht einmal mehr außerhalb seiner Welt, sondern überhaupt nicht mehr auf der Welt. Die Mutter hatte nur noch ihn und er die Mutter. Natürlich waren sie dankbar, bei der Tante des Vaters, Emmi, ihrem Sohn Eberhard und dessen Frau Luise aufgenommen worden zu sein. Aber der kleine Junge spürte Spannungen, und lernte langsam deren Ursache zu durchschauen.
Der Onkel nannte ihn „Pfiffikus“, schnitzte dem Jungen kleine Boote aus Baumrinde, die er auf den Gräben fahren ließ, und nahm ihn gerne auf seinen Spaziergängen mit. Da durfte der Onkel Zigarren rauchen, was Tante Luise, unterstützt von Schwiegermutter Emmi und besonders militant von Tochter Gerda, die von „Lungentorpedos“ redete, im Schloss strikt verboten hatte. Das war eine Maßnahme, die Georg voll billigte, denn in der Nachkriegszeit stank der Tabak fürchterlich. Draußen störte das nicht, der Onkel brauchte jemanden, vor dem er seine Gedanken ausbreiten konnte, und Georg hörte gut zu. Alles, was geerntet würde, müsse er abliefern, trotzdem herrsche Mangel, alles würde nur auf Karten zugeteilt. Er könnte viel mehr erzeugen, wenn er nur mehr Dünger und neue Maschinen bekäme. Die Pferde müssten durch Traktoren ersetzt werden, dann brauche er auch nicht mehr so viele Arbeiter auf dem Gut, die begannen nämlich, mehr Lohn zu verlangen. Andererseits drohe die Gefahr ausländischer Konkurrenz, in Amerika wachse der Weizen auch ohne Dünger. Immerhin gäbe es einen guten, wichtigen und mächtigen Menschen namens Adenauer, der „die Karre aus dem Dreck ziehen würde“, was den Jungen angesichts des Matsches auf dem Hof und den Feldwegen sehr beeindruckte. Keine Bodenreform, was immer das sein mochte, und man konnte mit dem neuen Geld alles kaufen, was es vorher nicht gab. Sie hatten zwar keins, aber Adenauer würde ihnen auch das noch verschaffen.
Der Krieg war nun einige Jahre vorbei, die Notzeit ging zu Ende, jeder musste sich zumuten lassen, selber die Verantwortung für sein Schicksal zu übernehmen. Bei Tisch gab es sarkastische Anspielungen. Luise zu Eberhard: „Schönbergs haben den linken Flügel des Schlosses abreißen müssen, der war so baufällig, dass man es auch den Flüchtlingen nicht mehr zumuten konnte.“ Als erste gingen die Goldbergs, in einen Ort namens Bonn, wo Adenauer regierte. Aber nicht zu dem, sondern zu fragwürdigen Menschen, den Sozis. „Nach allem, was wir für ihn getan haben“, meinte Tante Luise. Der Onkel wiegelte ab: „Er ist gegen die Kommunisten und war das schon vor dem Dritten Reich, und überhaupt war schon sein Vater zwar Jude, aber doch ein hochanständiger Mensch.“ Tante Emmi unterstützte ihren Sohn: „Dein Vater, Agnes, hat die Goldbergs doch auch geschätzt“. „Ja, weil der alte Goldberg durchaus national gesinnt war. Dem Sohn hat Vater noch vor seinem Tod empfohlen, sich an uns zu wenden, wenn er in Schwierigkeiten käme, aber natürlich hat es damals Vater, wie wir alle, nie für möglich halten können, wie schlimm sich die Nazis aufführen würden.