„Lass es mich so sagen, Irandina: Ich bin klüger als ihr alle zusammen. Selbst wenn man den Kleinen zehnmal zählen würde.“
Lunarus ist zwar nicht so stark, wie Alamon, doch wesentlich schneller in seinen Bewegungen. Es ist kaum zu glauben, wie schnell er sich bückt und voll Wut einen harten Eisbrocken auf seinen Beleidiger schleudert.
Volltreffer, dachte ich. So schnell kann ich kaum schauen und nur aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich, dass sich Alamon, wie erwartet, nicht bewegt. Trotzdem fliegen mir kurz darauf kleine Eisbrocken um die Ohren. Leider auch einer ins linke Auge, das sich durch den natürlichen Reflex zu spät und nur leicht schließt. Es schmerzt.
„Seid ihr verrückt? Was soll das?“
Für Alamon denke ich zu langsam, denn er lacht mich aus. „Hast du mal wieder alles verschlafen, kleine Irandina? Nichts von meiner Abwehr mitbekommen, außer dem kleinen Eisbröckchen?“
Ich drücke auf mein schmerzendes Auge und blicke ihn wütend mit dem unversehrten Rechten an.
„Während ihr euch um Kinderkram kümmert, habe ich sehr viel weiter gedacht. Ich glaube kaum, dass einer von euch meine Gedanken wird teilen können, doch ich werde sie euch gerne auch drei oder viermal erklären.“
Dieser Mistkerl ist uns doch schon wieder um Längen voraus. Was hat der ausgebrütet?
„Hört mir zu. Falls ihr es vergessen habt, besitzen wir hier immer noch unsere Macht. Und wie ihr wisst, können wir diese nicht gegeneinander einsetzen. Wir werden uns also von Hand umbringen müssen.
Wie wohl nicht alle gesehen haben“, dabei blickt er zu mir, „oder nicht konnten, können wir aber unsere Macht zur Abwehr einsetzen. Es war ein Leichtes, den Eisklumpen abzuwehren. Dazu muss man nur ein klein wenig Denken. Wenn ihr brav seid, werde ich es euch eines Tages beibringen.“
Für sein dreckiges Grinsen würde ich ihm gerne eine rein schlagen. Wahrscheinlich aber kommt meine Faust gar nicht nah genug heran.
„Also aufgepasst. Zunächst müssen wir uns um unser eigenes Wohl kümmern. Ich gedenke nicht länger, hier in dieser Saukälte zu stehen und auf das Meer zu starren. Ein Blauwal namens Loki wird sich hier nicht mehr blicken lassen.“
Bisher hat Alamon vernehmlich laut gesprochen. Ab jetzt könnte man sagen, er brüllt.
„Wir werden uns rächen, an ihm und an allen Göttern, die nicht zugeben wollen, dass wir im Recht sind! Reifeprozess – pah! Ihr Werk missachten – ein Witz. Die werden noch sehen, wie wir ihr Werk achten. Mit Krieg werden wir die Welt überziehen, bis jeder die harmlosen Götterchen verlachen wird.“
„Und wie willst du das machen, du Spinner? Fliegen wir von der Insel? Jeder sein Päckchen Macht auf dem Buckel, damit wir nicht tot ins Meer fallen und auch noch ersaufen?“ Freddori hält deutlich wenig von Alamons Phantasien.
„Mein Junge, denk doch mal nach, falls du das mit deinen Knoten im Gehirn hinkriegst. Nochmal: Wir besitzen noch unsere Macht. Wir haben nur noch nicht gelernt, wie wir sie richtig einsetzen können. Aber das werden wir, Mann, das werden wir. Und eines Tages werden wir auch heraus finden, wie wir diese Insel verlassen können, ohne tot umzufallen.“
Richtig beschwörend ist seine Rede geworden, während er auf Freddori zugeht und ihm auf die Schulter klopft. Der hat voll Misstrauen seinen Kopf zur Seite genommen. Darauf reagiert Alamon aber nicht. Er wendet sich wieder uns allen zu.
„Ein Haus werden sie uns hier bestimmt nicht hingestellt haben. Also suchen wir uns erst einmal eine Höhle. Dort machen wir uns ein Feuerchen zum wärmen und ich werde euch dann weiter erklären, was mein Plan ist. Lasst euch überraschen.“
Ich weiche aus Irandinas Körper und sehe sie wieder neben mir stehen. Ich bin schweißgebadet und mein Körper tut mir weh. Mehr als deutlich habe ich die Veränderung des Leibes gespürt. Gelobt seien die Götter, dass die Erinnerung nicht in unseren Köpfen blieb.
„Brauchst du eine Pause, Waltruda?“, will Irandina wissen.
„Kommt noch viel?“, frage ich dagegen.
„Ich will dich nicht drängen, doch habe ich dir sehr viel zu berichten und ich weiß nicht, wann mich die Götter abberufen, wenn es für mich einen neuen Körper gibt. Andererseits verstehe ich, wenn du eine Ruhepause benötigst, denn es ist sicherlich schwer zu ertragen für dich.“
Ich atme tief durch und wische mir den Schweiß von der Stirn. Wieso kann ich meinen Arm bewegen? Bisher war ich doch zur Bewegungslosigkeit verdammt. Ich schaue zu Irandina und in Alamons Augen. Irgendwer hat mir die Entscheidung abgenommen… Ich sitze neben ihm.
„Na, Kleine, wird dir von meinen Ausführungen warm oder vom Feuer? Oder wird dir gar warm wegen mir?“
Ein gemeines Grinsen begleitet diese Worte. Könnt ich ihm doch die strahlenden Zähne einschlagen. Was bildet der sich ein?
„Hältst du mich für blöd, oder was? Einzig das Feuer bringt mich zum Schwitzen.“
„Also das Feuer in mir.“, grinst er mich weiter an.
Autsch, mein Handgelenk. Sein Griff ist eisern, als er meinen Versuch, ihn zu ohrfeigen, bereits im Keim erstickt. Nur nach seinem Willen kann ich ihm meinen Arm entreißen.
„Bilde dir nur keine Schwachheiten ein, Kindchen. Du wirst mich nie überwinden.“ Das Grinsen ist aus seinem Gesicht gewichen und blanke Wut und Hass starren mich aus seinen Augen an.
„Das werden wir noch sehen, Tyrann.“, gebe ich trotzig zurück.
Seine rechte Hand schnellt vor und packt mich schmerzhaft am Kinn. Er steht auf und dabei drückt er meinen Kopf weiter nach hinten, dass auch noch das Genick lautstark protestiert. „Kümmere dich um deinen Auftrag, statt mir zu drohen.“ Ein weiter verstärkter Druck nach hinten zwingt mich dazu, vom Felsbrocken zu stürzen, auf dem ich Platz genommen habe. Seine Hand lässt mich los.
Ich entscheide mich dafür, mir das schmerzende Genick zu reiben, damit ich trotz weiter spürbarem Druck auf dem Unterkiefer reden kann. „Sehr wohl, Gebieter.“
All meinen Trotz und Wut lege ich in diese drei Worte, doch Gebieter hätte ich ihn nicht nennen sollen. Alamon überhört bewusst meinen Tonfall und freut sich. „Habt ihr gehört? Gebieter hat sie mich genannt. Ein braves Kind. Ich werde mir überlegen, diesen Titel weiter zu führen.“ Deutlich barscher darauf: „Und jetzt macht, was ich gesagt habe.“
Nur wegen seiner Machtdemonstrationen folgen wir widerwillig dieser Aufforderung. Wer weiß, was der inzwischen noch alles in sich entdeckt hat. Am Ende kann er unsere Gedanken lesen. Das könnte tödlich sein.
Lunarus, Freddori und Guggeri sollen den Wohnraum, also die Höhle hier, mit ihren neu erkannten Kräften erweitern. Das würde die Bewegung von Sachen mit Geisteskraft üben. Die Männer schwitzen wahnsinnig vor Anstrengung. Es ist etwas anderes, ein Steinchen mit Willenskraft zu heben, als ganze Brocken aus einem alten Fels zu brechen und nach draußen zu transportieren. Wir anderen sollen versuchen, andere Lebewesen zu erspüren, denn die Natur verlangt ihr Recht und wir haben riesigen Hunger. Verdammte Natur.
Ich schaue, wie sich die anderen verhalten. Anscheinend tun sie tatsächlich, was von ihnen verlangt wurde. Wie vertrauensselig. So geistig versunken sind die doch alle willige Opfer für Alamon. Im Moment merken die doch überhaupt nicht, was um sie herum vor sich geht. Oder täusche ich mich? Lauern die gar genauso misstrauisch und argwöhnisch wie ich? Was mach ich jetzt? Ah, ja.
„Ich geh nach draußen. Hier drin spüre ich nichts. Nicht den Hauch eines Lebewesens. An der Küste krieg ich vielleicht einen Fisch zu packen. Wär doch was, oder?“
Ich warte keine Antwort ab und gehe raus in die Kälte. Der verflixte Vulkan spuckt immer noch. Das Glühen der Lava ist weithin sichtbar. Wo mag das Wasser hinfließen,