Ich sehe schnell zu ihr hinüber und erblicke nur ihr breites Grinsen. Fast wünsche ich mir, sie wäre eine alte Furie, die ihn jetzt ergreift und hinausschleift.
„Okay, Schatz. Du fehlst mir jetzt schon“, sagt Marcel und seine Augen blitzen glücklich auf.
Ah, … rumpel … rumpel.
Endlich steht er auf und greift nach seiner Jacke. Er kommt erneut zum Bett und ich taste nach der Fernbedienung, um mein Rückenteil wieder umzustellen. Dabei hantiere ich umständlich damit herum, als wüsste ich nicht, wie das funktioniert.
Er lässt sich nicht beirren und wartet bis ich fertig bin, als hätte er und die Krankenschwester, die wohl den Auftrag hat, ihn auch wirklich von der Station zu geleiten, alle Zeit der Welt.
„Dann bis morgen und schlaf gut“, flüstert er und gibt mir erneut einen Kuss. Dann geht er mit einem langen Blick auf mich zur Tür.
„Du auch“, entgegne ich nur und bin froh, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt.
Es ist still um mich herum und ich spüre, wie müde und erschöpft ich bin. Aber in meinem Inneren tobt ein Orkan. Ich bin völlig durcheinander. Marcel bringt mich durcheinander … und meine Eltern … und was in den letzten Tagen passiert ist … und was in den nächsten Tagen alles passieren wird. Scheinbar habe ich jetzt einen offiziellen Freund. Sein „Schatz“ wallt immer noch durch meine Gehirnwindungen und lässt diesen Aspekt erschreckend real werden.
Vorsichtig fühle ich nach dem Verband an meinem Hals. Ein leichtes Stechen durchzuckt mich, als ich sachte darüberstreiche. Langsam lasse ich die Hand sinken und seufze, als hätte ich das ganze Elend dieser Welt auf meine Schultern geladen. Jetzt, in der Stille meines Zimmers, fühle ich mich auch elend. Es ist so viel Schreckliches passiert. Ich sehe plötzlich Julian vor mir, wie er in einer kalten Zelle auf einer Pritsche hockt und über alles nachdenken kann, was er getan hat. Wie denkt er jetzt wohl darüber, wo alles vorbei ist und er sich den Folgen stellen muss? Bestimmt tut ihm alles schrecklich leid.
Und dann ist da Tim. Ich muss daran denken, wie Julian ihn schlug und wie er sich vor Schmerzen krümmte. Was habe ich ihm angetan? Er hatte mich gewarnt und ich habe nicht auf ihn gehört.
Am liebsten würde ich aufstehen und nach ihm sehen. Er liegt vielleicht nur ein paar Zimmer weiter oder ein Stockwerk tiefer. Aber ich fühle mich viel zu schwach.
Morgen muss ich aber zu ihm. Ich muss ihn sehen!
Die Schwester kommt wieder in mein Zimmer und meint lächelnd: „Sie haben wirklich einen netten Freund. Nicht jeder kümmert sich so aufopferungsvoll.“
Ich sehe sie nur groß an, während sie die Infusion checkt und sagt: „So, den sind Sie gleich auch los.“
Bevor mich die Panik packen kann, weil sie gleich den Schlauch aus meiner Ader zieht, ist er schon verschwunden.
„Danke“, hauche ich nur und lasse mich schwer in mein Kissen sinken.
„Ich werde Ihnen jetzt noch etwas zum Essen holen und einen Tee“, sagt sie und geht. Keine zehn Minuten später kommt sie mit einem Tablett zurück, auf dem eine Schüssel Hühnersuppe und ein Kännchen Tee zu finden ist. Wieder das Kopfende hochfahrend, lasse ich sie mir das Tablett vor die Nase schieben und lächele sie an. Ich bin froh, noch so spät etwas zum Essen zu bekommen. Langsam beginne ich die Suppe zu löffeln und trinke hinterher den Tee. Das nimmt mir den Rest meiner Kraft und ich schiebe das Tischen, das mit dem Tablett über mir prangt, zur Seite und lasse das Kopfende wieder sinken. Zu mehr sehe ich mich nicht in der Lage.
Irgendwann kommt jemand und holt das Tablett aus dem Zimmer. Ich halte meine Augen geschlossen, weil ich mich außerstande sehe wieder ein Gespräch führen zu müssen. Ich habe das Gefühl mir nicht noch einmal anhören zu wollen, wie toll mein „Freund“ ist. Das verkrafte ich nicht.
Ich bin zwar unendlich müde und erschöpft. Aber schlafen kann ich trotzdem nicht.
Lange liege ich nur da und lasse meine Gedanken ihre Bahnen ziehen. Dabei versuche ich zu ergründen, was wirklich in mir vorgeht und wie nun alles weitergehen soll. Es erschüttert mich nicht so sehr, was mir zugestoßen ist und der Verband an meinem Hals. Vielmehr erschüttert mich der Gedanke, dass ich mein Leben immer noch nicht im Griff habe.
War ich mir nicht immer sicher gewesen, dass, sobald wir diese Geschichte mit Kurt Gräbler hinter uns haben, auf welche Art auch immer, mein Leben klar und völlig problemlos aussehen wird. War ich nicht immer der Meinung gewesen, dass das der Lohn dafür sein wird, dass ich meine ganze Kindheit so gelitten habe. Und was ist daraus geworden? Ein immer noch voll problematisches Leben.
Ich lasse die letzten zwei Tage, vor Julians Angriff auf uns, noch einmal an mir vorbeiziehen, in der Hoffnung, alles klarer zu sehen. Da waren Tim und seine heißen Küsse an der Waldhütte … und Julian, der mich am liebsten geluncht hätte, weil er nicht wusste, mit wem ich zusammen gewesen bin … und Marcel, der wie immer zur rechten Zeit sich in mein Leben drängte, um mir aus der Patsche zu helfen und wieder zu meinem Alibi wurde. Und dann der Abend bei ihm und unsere endlosen Gespräche, und die Nacht in seinen Armen, und seine Küsse …
Ich fühle ein unglaublich schlechtes Gewissen durch meine Adern kriechen. War ich nicht kurz davor sicher gewesen, Tim zu lieben? Und kurz danach lag ich mit Marcel im Bett und küsste ihn sogar. Ich hatte ihm damit so viel Hoffnung gemacht.
Ich fühle mich noch schlechter und schüttele über mich selbst den Kopf.
Draußen vor der Tür höre ich irgendwo eine Glocke bimmeln. Kurz darauf hallen die Schritte der Nachtschwester durch den Gang und eine Tür fällt ins Schloss.
Ich reiße die Augen auf.
Es ist nicht dunkel in meinem Zimmer. Von draußen erhellt eine Straßenlaterne einen Teil des Zimmers und an der Tür brennt eine Notbeleuchtung. Die weißen Wände, Schränke und mein weißes Bett scheinen auch nicht für ein in tiefste Dunkelheit getauchtes Zimmer geschaffen zu sein.
Mir ist es recht. Ich mag keine tiefschwarze Dunkelheit.
In meinem Kopf rotieren die Gedanken weiter.
Marcel hatte mich verraten. Er hatte Julian ausgerichtet, dass ich den Standort des Labors kenne und ich habe Tim verraten. Ich hatte Julian das Labor gezeigt und ihm die Unterlagen gegeben.
Und nun bin ich Marcels Freundin.
Ich fühle mich immer schlechter.
Tim wollte mich nicht retten, als Julian ihm sagte, er hätte mich in seiner Gewalt. Marcel hingegen hat mir und Tim das Leben gerettet … und gesagt, dass er mich liebt. Aber ich … ich liebe Tim.
Poor, fühle ich mich schlecht.
Tim ist der Bruder meines Bruders … und Marcel ist gar nichts.
Klar liebe ich Tim. In meiner Familie liebt doch jeder den Bruder eines Bruders und setzt mit dem Kinder in die Welt.
Ich drehe mich vorsichtig auf die Seite und rolle mich, so gut es mit meinem verletzten Hals geht, zusammen.
Oder mit der eigenen Tochter … oder mit dem Cousin …
Mir kommt die Frage in den Sinn, was meine Mutter und der Vater von Julian und Tim für ein Verwandtschaftsverhältnis haben. Aber so sehr ich mich auch bemühe, klar kann ich das nicht definieren. Aber mit Cousin und Cousine liege ich bestimmt nicht ganz so falsch. Also ist doch klar, dass ich mich in Tim verlieben musste.
Wie schrecklich! Da muss es einem schlecht gehen. Wie hatte Kurt Gräbler es nur geschafft, seine Nachkommen derart zu manipulieren?
Ich denke an Marcel, dass er immer da ist, mich beschützt, mich umhegt, wie er meine Hand hält, wütend wird, wenn meine Eltern Julian die Schuld an allem absprechen und unendlich traurig, wenn ich seine Zuneigung nicht erwidere. Der bloße Gedanke an seine Tränen rührt mich immer noch, und dieser Satz … Was hatte er gesagt? Wäre ich gestorben, hätte er auch nicht mehr leben wollen.