„Aber es muss etwas passiert sein, was ihn so durchdrehen ließ. Irgendjemand muss ihn so gegen alles aufgebracht haben. Er würde sonst nie …“, stammelt meine Mutter und wirft mir einen kurzen, fragenden Blick zu. Dann drückt sie sich wieder an meinen Vater, der sie fürsorglich in beide Arme schließt.
In meinem Kopf schwirrt es wie in einem Hornissenschwarm. Was für Tabletten muss Julian nehmen? Ich weiß nichts darüber. Nicht mal, dass Julian wegen irgendetwas in Behandlung war. Aber ich erfahre ja sowieso nie etwas und dass meine Eltern glauben, nur jemand anderes als Julian kann schuld an allem sein ist typisch.
Marcel sieht kopfschüttelnd auf und ich sehe Wut in seinen Augen wie flüssiges Silber aufglimmen. Er steht langsam von meiner Bettkante auf und ich habe das Gefühl, dass er wütend einiges klarstellen will. Schnell greife ich nach seiner Hand und halte ihn zurück, meine ganze Energie in diesen Griff legend.
Doch er scheint hier und jetzt meinen Eltern alles erzählen zu wollen.
Alle Kraft aufbietend, die ich aufbringen kann, ziehe ich ihn zu mir auf das Bett zurück. Er soll nicht tun, was er vorhat. Ich will keinen Ärger und meine Eltern werden ausflippen, wenn sie von den Träumen und allem erfahren.
Marcel sieht mich an und augenblicklich scheint sich die Wut in seinem Blick aufzulösen. Dass ich seine Hand halte und ihn an meine Seite ziehe, lässt alles andere scheinbar unwichtig werden. Er setzt sich wieder auf die Kante meines Bettes. Doch an seiner angespannten Haltung glaube ich so etwas wie Widerwillen zu erkennen, dass ich ihn nicht meinen Eltern die Meinung sagen lasse.
Ich greife in den Ausschnitt seines T-Shirts und ziehe ihn zu mir heran.
Er ist so perplex, dass er sich willig von mir ziehen lässt und mich unschlüssig mustert.
„Bitte, nicht jetzt. Ich kläre das schon“, sage ich leise und schiebe meine Hand in seinen Nacken, damit er sich nicht wieder aufsetzen kann und einen erneuten Angriff auf das Seelenheil meiner Eltern startet. Er muss einsehen, dass ich es ernst meine. Das ist mein Kampf. Nicht seiner!
Sein Gesicht verliert alle Härte und er stützt sich mit den Händen links und rechts neben meinem Kopf auf dem Kissen ab, sich ganz mir widmend. Sein Blick läuft über mein Gesicht und ich werde nervös. Schnell nehme ich meine Hand von seinem Nacken und will sie ihm auf die Brust legen, um wieder etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Aber es ist zu spät. Er beugt sich vor und küsst mich. Ich fühle seine Lippen einen Moment auf meinen.
Ich schiebe ihn energisch von mir weg und starre ihn aufgebracht an. Was sollen meine Eltern denn denken? Marcel ist echt peinlich und spinnt wohl völlig!
Dem ist meine Reaktion nicht entgangen. Langsam setzt er sich auf und sieht mich verwirrt an.
Ich starre an ihm vorbei zu meinen Eltern und erwarte ein Donnerwetter.
Aber die haben mit sich selbst zu kämpfen. Mein Vater lässt gerade meine Mutter los und sie wischt schnell über ihre Augen. Dann dreht sie sich zu mir um und lächelt schwach. „Weißt du, wir haben sofort unseren Rückflug gebucht, als die Polizei uns anrief. Sie hatte mit Christiane zusammen unsere Adresse aus deinem Zimmer geholt und so konnten sie uns verständigen. Christiane ist so ein liebes Mädchen!“ Dann erzählt sie von dem Rückflug, den sie mit einigen Schwierigkeiten umbuchen konnten und geben noch zum Besten, wie ihr Urlaub war. Sie scheinen einfach das andere Thema nicht mehr anschneiden zu wollen. Sie möchten es lieber verdrängen. Aber so kenne ich sie ja.
Das Ganze ist anstrengend und ich fühle mich allmählich mit all dem völlig überfordert. Meine quasselnden Eltern und dazu noch Marcel, der mich sogar vor ihnen geküsst hat. Das ist alles zu viel für mich. Er hat Glück, dass sie das nicht mitbekommen haben.
Ich werfe ihm erneut einen mürrischen Blick zu.
Er sitzt nur da und scheint dem Redeschwall meiner Eltern nicht folgen zu wollen. Er hält nur meine Hand und spielt mit meinen Fingern, als wäre er mit meiner Hand allein.
Ich versuche mich auf meine Eltern zu konzentrieren, denn Marcels Anblick beunruhigt mich. Wenn ich in sein Gesicht sehe, glaube ich eine tiefe Traurigkeit darin zu sehen. Bestimmt versteht er nicht, wieso meine Eltern so eine Sicht auf die Dinge haben und nun die Verdrängungstaktik fahren. Ich hoffe, sie gehen bald und ich kann mit ihm darüber reden. Ihr Getue ist für mich nicht so schlimm, wie er denken muss. Meine Eltern waren nie gut in Problembewältigung gewesen und Helden, wenn es um Verdrängung und Vertuschung geht. Aber das weiß Marcel natürlich nicht. Er weiß gar nichts von uns. Dass er überhaupt hier ist, finde ich immer noch seltsam und unerklärlich. Auch wenn er die Polizei zu dem Labor führte, und somit Tim und mich rettete, ist das noch lange keine Eintrittskarte in unsere Familie und mein Leben.
Ich schließe kurz die Augen und weiß, ich habe da nicht ganz recht. Es gibt da etwas, was aus Marcel herausbrach, als er glaubte, dass ich in seinen Armen sterbe.
Aber daran will ich jetzt erst recht nicht denken.
Als meine Eltern alles von ihrem Urlaub und ihrem Rückflug und der Fahrt hierher erzählt haben und es nichts mehr zu erzählen gibt, außer der Geschichte von Julian und mir, entsteht eine Stille, in der wir uns nur ansehen. Sogar Marcel sieht von meiner Hand auf und schaute sich um, als wird ihm gerade erst bewusst, wo er sich befindet. Sein Blick versetzt mir einen Stich.
Meine Mutter wird nervös. Sie will nicht über Julian sprechen und auch nicht über das, was passiert war. Aber worüber kann man sonst reden?
Mein Vater durchbricht die Stille, kurz bevor ich sagen kann, dass ich müde bin und sie ruhig nach Hause fahren können. Sie haben bestimmt noch einiges auszupacken.
„Seit wann kennt ihr beiden euch eigentlich?“ Dabei richtet er das Wort an Marcel.
Der sieht meinen Vater irritiert an. Dann antwortet er langsam, als müsse er erst jedes Wort gut überlegen: „Seit einigen Wochen.“
„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragt meine Mutter, der scheinbar das neue Thema gefällt.
„Ich gehe mit Julian zusammen in den Fußballverein“, antwortet Marcel und hört verunsichert wieder auf.
Doch meine Eltern wirken gefasst. Sie nehmen sich nur an die Hand. Die Erwähnung von Julians Namen bringt ihr Verdrängungsgerüst nur leicht ins Wanken. „Und der stellte mich dann Carolin vor.“ Mehr sagt Marcel nicht und meine Eltern sehen erst sich und dann mich an.
„Naja, und wir sind halt zusammen ins Kino gegangen und so“, ergänzt Marcel, wobei er offenlässt, ob das Zusammen nur mich und ihn betraf oder auch Julian.
„Ah, schön“, antwortet meine Mutter daraufhin nur und sieht meinen Vater wieder an, als solle er etwas Originelleres hervorbringen. Doch der sagt gar nichts.
Ich nutze die Gelegenheit. „Ich bin noch ganz schön müde und möchte noch ein wenig schlafen“, murmele ich, die wieder entstandene Pause nutzend. Ich schlucke schwer und fühle, dass mein Hals trocken ist: „Ich glaube, ich brauche noch ein wenig Ruhe“, raune ich und fasse an den Verband um meinem Hals.
„Sollen wir gehen?“, fragt meine Mutter sofort und bekommt wieder einen weinerlichen Stimmwackler.
„Ihr müsst doch bestimmt noch eure Koffer auspacken“, sage ich und hoffe, dass sie das als passenden Aufhänger nehmen wird.
„Du hast recht. Die Koffer sind noch im Auto. Wir sind vom Flughafen gleich hierhergefahren, um nach dir zu sehen. Und morgen werde ich Julian versuchen zu erreichen. Man wird doch wohl seine Mutter mit ihm sprechen lassen“, jammert meine Mutter aufgebracht.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortet mein Vater nur und kommt um das Bett herum zu mir, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Sollen wir wirklich schon gehen? Können wir noch irgendetwas für dich tun? Brauchst du noch etwas?“, stammelt er und ist richtig unglücklich, dass ich sie wegschicke.
„Nein, ich brauche nur noch etwas Zeit zum Ausruhen.“
„Dann schlaf gut, Kleines. Morgen kommen wir wieder. Und mach dir keine